Das Kind, Das Nicht Fragte
Küche und mitten in meinem Zimmer, um … – entschuldigen Sie, das tut hier nichts zur Sache, lassen wir diese Abschweifungen. Werfen Sie lieber noch einen Blick auf dieses vierte Heft, es enthält meist sehr trockene Eintragungen zu meiner ethnologischen Forschung: Auswertungen von Fragebögen, Theorieansätze, Projekt-Dokumentationen. Vor ein paar Stunden habe ich in dieses Heft eine Menge notiert, lesen Sie etwa hier: Ristorante Alla Sophia, Ecktisch, 20.17 Uhr. Drei typisch sizilianische Suppen. Grundkonsistenz Gemüse, angereichert durch trockenes, gemahlenes Brot, das Spiel von Süße und Schärfe (durch die Beifügung von Zitronat, Fruchtlikören und in Marsala eingelegten Peperoncini, die dadurch nicht ganz die Schärfe verlieren, wohl aber etwas gebundene Schärfe an die Früchte abgeben).
Ich lasse sie eine Weile in den Heften blättern, denn ich habe noch nicht viel notiert und deshalb auch nichts zu verbergen.
– Wann fangen Sie mit der Forschungsarbeit an? fragt sie.
– Morgen, sage ich. Morgen mache ich Ernst mit den Befragungen, und dann werden sich die Hefte Tag für Tag fast von alleine füllen.
– Wie durch Geisterhand.
– Ja genau, wie durch Geisterhand.
– Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, sagt sie.
Ich bedanke mich und streife meinen Rucksack über, es fällt mir sehr schwer, das Restaurant allein zu verlassen. Lieber würde ich die zehn Minuten mit ihr zusammen zu Fuß hinüber zur Pension gehen. Das aber will sie anscheinend nicht, ich glaube, so etwas zu bemerken. Sie will das nicht , denke ich, sie will es noch nicht! Ich öffne die Glastür und will hinausgehen, als ich sehe, dass sie noch nicht sofort in die Küche geht, sondern mir hinterherschaut:
– Wissen Sie was? Sie fragen einem die Seele aus dem Leib. Es ist beinahe unglaublich, wie gut Sie das können, ich bin völlig betäubt. Als hätten wir zusammen eine weite Reise unternommen, als wären wir Gott weiß wo alles gewesen. Wo haben Sie denn so etwas gelernt?
– Darüber sprechen wir unten im Hafen, während unseres Abendessens.
– Sie lassen einfach nicht locker, was?
– Nein, tue ich nicht. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mir diesen Wunsch erfüllen.
– Ich hätte übrigens auch einen Wunsch, sagt sie.
– Und der wäre?
– Sind Sie mit dem Wagen unterwegs?
– Ja, bin ich.
– Gut, dann machen wir vielleicht einmal einen kleinen Ausflug.
– Versprochen?
– Ja doch, versprochen.
II
Der Mittag
Oggi sono io
Che ti scrivo
Heute nun
Schreibe ich Dir.
1
A M MORGEN, gegen zehn Uhr, beginne ich mit der Befragung Albertos. Es ist bereits angenehm warm, aber die Stadt ist noch etwas verschlafen. Wir setzen uns vor seiner Buchhandlung in die Sonne, es gibt Tee, eine große Kanne, Earl Grey am Morgen ist nicht gerade meine Sorte, aber ich sage dazu nichts.
Ich erkläre Alberto, dass dieser Morgen dem Warmmachen dient, und ich bemerke, dass er gespannt darauf ist, worum es gehen wird. Ich beginne damit, dass ich wild durcheinanderfrage, ich springe rasch von einem Thema zum andern und ziele mit meinen Fragen zunächst auf bestimmte Vorlieben: Welche Mannschaftssportart würdest Du gerne betreiben und warum? Welches Musikinstrument würdest Du gerne beherrschen und warum? In welchem Film, den Du gut kennst, würdest Du gerne welche Rolle gespielt haben? Welche Führungsaufgabe hättest Du gerne übernommen? Wohin wärest Du gerne einmal mit Deiner Mutter verreist?
Alberto antwortet so, wie ich es erwartet und erhofft habe. Er lässt sich Zeit und beginnt zu erzählen, und ich kann genau erkennen, dass solche einfachen Fragen
bereits Themen berühren, die ihn eigentlich sehr beschäftigen, über die er aber lange nicht nachgedacht oder vielleicht noch nie mit jemandem gesprochen hat. (Das ist das ungemein Raffinierte solcher scheinbar einfachen Fragen: dass sie letztlich ins Herz zielen, dass sie den Befragten auf einem kleinen, unscheinbaren Umweg (den er gar nicht bemerkt) auffordern, etwas zu erzählen, das ihn berührt.)
Die Frage nach der möglichen Führungsaufgabe beantwortet Alberto nach kurzem Nachdenken zum Beispiel mit einer längeren Erzählung eines geheimen Traums. Dabei kommt heraus, dass er eigentlich gerne Verleger eines guten, literarischen Verlages mit interessanten Autoren und einem kleinen, aber in ganz Italien viel beachteten Programm geworden wäre. Er hebt hervor, dass er alles könne, was nach seiner Ansicht ein guter, literarischer Verleger können müsse: mit
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