Das Kind, Das Nicht Fragte
mir: Es ist schön und gut, dass Du so etwas erlebst, aber mach lieber gleich Schluss damit! Du wirst genau dort enden, wo Du schon mehrmals geendet bist: In der Erschöpfung, trocken und trostlos angeblickt von einer Frau, die Dich fragt, was Dich so lange an ihrer Seite hat leben lassen …
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I NZWISCHEN HABE ich mir das Leben hier eingerichtet und verbringe die Tage in einer durchaus wohltuenden Gleichförmigkeit. Die aber ist unbedingt notwendig, damit ich mit meinen Forschungen vorankomme. Ich brauche an jedem Tag, und das ist immer schon so gewesen, ein gewisses unveränderliches Korsett von Aktionen, das die Grundlagen für ein bestimmtes Pensum an täglicher Arbeit schafft.
Ich stehe gegen sechs Uhr auf und führe noch vor dem Frühstück meine tägliche Chronik. Dabei sitze ich vor dem weit geöffneten Fenster mit Blick hinaus auf das Meer, dem ich bisher noch nicht näher gekommen bin. Ich studiere die Veränderungen seines Blaus, und mein Blick bleibt am feinen, zitternden Saum des Horizonts hängen, den ich manchmal mit den weißen Küsten Afrikas in Verbindung bringe. Ich will aber keineswegs dorthin, ich will überhaupt nicht fort, alle Sehnsucht nach einer Veränderung ist während der Tage hier in Mandlica allmählich erloschen. Ich bin also gut angekommen in diesem Ort, ich bin neugierig darauf, was ich über seine Bewohner herausbekommen werde, und ich fühle mich insgesamt (wie noch selten in meinem Leben) genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Vielleicht haben meine Brüder in Köln etwas Ähnliches durchaus bemerkt. Ich stelle jedenfalls fest, dass sie aufgehört haben, mich täglich anzurufen. Der Letzte, der
sich von ihnen noch meldete, war Andreas, der mich auch diesmal mit lauter Vorschlägen für sogenannte Tagestouren und Kurzexkursionen nervte. Als Einziger von meinen Brüdern war er bereits dreimal auf Sizilien, zweimal mit einer gut geführten und sehr sympathischen Reisegruppe und einmal mit einer Abiturklasse, der er allen Ernstes das antike Sizilien anhand all seiner Voll-, Halb-oder Trümmertempel nahezubringen versuchte. Auch mich wollte er dafür begeistern, das Heiligtum einer antiken Quellnymphe in Syrakus und das Tempeltal von Agrigent zu besichtigen, ich antwortete durchaus freundlich, aber knapp, dass ich mir seine Tipps notieren werde, vorerst aber nicht daran denken könne, meine Forschungen zu unterbrechen.
– Was glaubst Du denn, wie lange Du noch brauchst? fragte er.
– Ich schätze, ein halbes Jahr, antwortete ich, und mein Bruder Andreas war plötzlich still und verabschiedete sich kurz darauf mit einem eher hastig hingemurmelten Gruß.
Gegen acht Uhr frühstücke ich dann meist allein unten im Innenhof der Pension. Während des Frühstücks ist Maria beinahe immer in meiner Nähe. Natürlich setzt sie sich nicht an meinen Tisch oder an einen der anderen Tische, nein, das nicht, sie sorgt aber dafür, dass sie immer etwas zu tun hat, so dass es auch immer etwas zu berichten gibt. Im Grunde spricht sie aber gar nicht mit mir, sondern eher mit sich selbst, und ich bekomme auf diese Weise nebenbei mit, was an dem jeweiligen Tag in der Pension alles so ansteht:
– Heute sollen zwei Engländer kommen, liebe Leute, wenn man den Stimmen am Telefon glaubt. Der Mann spricht ein wenig Italienisch, und die Frau, die niemals telefoniert, denkt wohl, sie könne es besser, und korrigiert ihn aus dem Hintergrund. Meistens sind beide Versionen grammatikalisch komplett falsch, aber ich finde es rührend, wie sie sich bemühen, und tue so, als wäre alles perfekt. Ich werde ihnen Zimmer Sieben geben, denn sie wollen kein Doppelbett und auch kein Letto matrimoniale, sondern zwei einzeln stehende Betten, der Mann sagt, zumindest nachts bräuchten sie etwas Raum zwischen sich, ich habe geantwortet: Warum ausgerechnet nachts? Darauf hat er nichts zu sagen gewusst, sondern nur dreimal »oh, hallo!« gesagt, als hätte ich einen deftigen, schottischen Witz gemacht.
Natürlich denke ich darüber nach, warum Maria so erzählt, wie sie erzählt, was steckt dahinter? , frage ich mich, und ich frage mich auch, ob sie dieses Reden nur mir oder auch anderen gegenüber so lebhaft hinbekommt. Das Reden fließt nur so aus ihr heraus, wie ein sanfter Strom leicht abgeführten und nicht allzu konzentrierten Urins, der gleich wieder im trockenen Boden versickert. In keinem Moment wartet sie darauf, dass auch ich etwas sage oder sonstwie reagiere, sie spricht schubweise, und die Schübe
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