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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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überfliegt und dabei laufend Geldscheine fallen und auf Mandlicas Boden herabschweben lässt. Immer wieder räuspert er sich, er ist aufgeregt und mitgenommen, all die Fantasien, mit denen er seine Wahlkämpfe bisher gewonnen hat, haben Nahrung erhalten. Am Ende unseres Gesprächs beglückwünscht er sich allen Ernstes selbst zu der Idee, mich eingeladen zu haben.
    – Als Nächstes lade ich Sie und einige Mitglieder der Kommission zu einem Mandlicaner Mittagessen ein, sagt er.
    – Etwa bei Lucio? frage ich.
    – Ja, bei Lucio! Den kennen Sie also auch schon! Sie überraschen mich ohne Ende!
    – Dann lassen Sie mich noch mit einer letzten Überraschung
herausrücken, die Sie allerdings unbedingt für sich behalten müssen.
    – Ein Geheimnis? Etwas Delikates?
    – Sehr delikat – und natürlich geheim. Es handelt sich um den ersten Satz meines Werkes, das ein Gesamtvolumen von drei Bänden mit zusammen ungefähr eintausendachthundert Seiten haben wird.
    – Der erste Satz? Steht der denn schon fest?
    – Ja, es gibt bereits den ersten Satz, und ich sage Ihnen: Dieser Satz ist wie in Stein gemeißelt.
    – Lassen Sie hören!
    – Bitte hören Sie: Der erste Satz lautet: Die Stadt Mandlica hat etwa neunzehntausend Einwohner und liegt an der Südküste Siziliens …

    Er starrt mich an und fährt sich mit der rechten Hand durch seine Titanenmähne. Dann murmelt er meinen ersten Satz vor sich hin und wiederholt ihn zwei-, dreimal. Was dann kommt (ich gebe es zu), hätte ich niemals erwartet, es ist die erste wirkliche Überraschung, die von seiner Seite ausgeht. Enrico Bonni pustet nämlich etwas Luft aus seinen schmalen und sporttechnisch bestens durchtrainierten Backen und sagt:
    – Gallia est omnis divisa in partes tres …

    Ich bin so überrumpelt, dass ich nicht sofort verstehe. Ich begreife erst, als er auch diesen Satz mehrmals wiederholt.
    – Cäsar, sage ich dann wie ein eifriger Schüler, De bello gallico, der Anfang seiner großen Erzählung über den Gallischen Krieg.
    – Exakt, sagt er und steht nun endlich auf, hoch befriedigt darüber, eine Schlusspointe gesetzt zu haben.
    – Wenn Sie meinen ersten Satz mit Cäsar vergleichen, schmeichelt mir das natürlich sehr, sage ich. Danach kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen.
    – Wie in Stein gemeißelt, sagt Enrico Bonni und legt kurz die rechte, breite Hand auf meine rechte Schulter. Dann begleitet er mich noch hinaus, wortlos, als habe ihn dieses Gespräch nicht nur tief beeindruckt, sondern sogar gezeichnet.

    Ich verlasse das Rathaus und stehe plötzlich in der hellen Mittagssonne. Das Seltsame ist, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Zu Mario? Nein, da könnte ich jetzt Professore Volpi begegnen. In die Pension? Nein, meine Zimmer kommen mir nach einem solchen Gespräch geradezu lächerlich bescheiden vor. Zu Alberto? Nein, mit Alberto würde ich dieses abartige Gespräch nur zerreden. Abartig? Natürlich war es abartig! Merkwürdig ist nur, dass dieses schräge Reden meinen Forscherehrgeiz durchaus berührt hat. Ich habe mein Projekt bisher vielleicht zu klein angesetzt. Zu klein, zu vorsichtig, zu begrenzt! Ich sollte nicht nur wenigen Themen, sondern allen nur denkbaren nachgehen, die sich vor mir auftun. Nicht an dreihundert, vierhundert Seiten sollte ich denken, sondern in der Tat an mehrere Bände und Tausende von Seiten! Ein Jahrhundertwerk? Aber ja, warum nicht? Warum die Ansprüche von vornherein niedrig halten? Und warum sich überhaupt noch mit ethnologischen Standards begnügen? Die beherrsche ich längst, und jeder Fachmann weiß, dass und wie ich sie
beherrsche! Niemandem brauche ich mehr zu beweisen, dass ich so etwas leisten kann. Warum also nicht freier, weiter, universaler?!

    Als ich bei Lucio auftauche und ihn frage, ob er noch einen Einzeltisch frei hat, führt er mich sofort zu dem kleinen Ecktisch, an dem ich bereits mit Paula gesessen habe.
    – Wasser? Wein? Wie üblich? fragt Lucio.
    – Bringen Sie Wasser und eine kühle Flasche guten Spumante, sage ich, und informieren Sie, wenn Sie das hinbekommen, doch bitte Paula, dass ich hier auf sie warte.

8
    M ARIA KOMMT gegen 19.30 Uhr in mein Zimmer. Sie bringt eine Flasche Sherry mit, aber ich sage ihr gleich, dass ich während unseres Gespräches keinen Alkohol trinke. Sie fragt, ob das auch für sie gelte, und ich antworte, dass sie durchaus etwas trinken könne, es aber nicht übertreiben solle. Anscheinend trinkt sie zu dieser Tageszeit recht häufig Sherry, sie hat

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