Das Kind, Das Nicht Fragte
ausholender Manier, was sie mir während ihrer Führung nur in knappen Worten sagte. Ich schlüpfe in ihre Rolle, ich begegne ihr wieder, es ist seltsam, aber dieser Rollentausch ist so intensiv, dass mich mein eigenes Französisch erregt. (Es ist genau die richtige Sprache in diesem Moment, ich spreche sie weich und sehr verhalten, leise und aufmerksam, ich lasse kein rhetorisches Mittelchen aus, ich wiederhole, fasse zusammen, wiederhole, bilde ein paar exorbitante Metaphern, streue eine persönliche Anmerkung ( wenn Sie mir das erlauben, liebe französische Freunde ) ein und spare nicht mit Triumph-Vokabeln, als sei dem Mandlicaner Nobelpreisträger die subtilste Lyrik des Abendlandes gelungen.)
Ich ende sogar mit einer leichtsinnigen Bemerkung über Lyon, meine beiden Zuhörer müssen annehmen, dass ich
ein eifriger Lyon-Besucher sei, und als sie fragen, ob ich häufig in Lyon sei, bestätige ich das und erkläre, dass mich vor allem die berühmten Restaurants der Stadt seit Jahren anzögen. (Natürlich habe ich von diesen Restaurants nur gehört und gelesen, ich war noch nie in Lyon.) Warum aber mache ich das? Warum diese überflüssigen Schluss-Bemerkungen? Ich möchte das Paar in mein Herz schließen , ich möchte es meinem zweiten, Französisch deklamierenden Körper einverleiben. Und als sei das gelungen, überreicht der Mann mir seine Visitenkarte und lädt mich zum Abschluss meiner Vorstellung nach Lyon ein. (Er heißt Antoine Griolet, ist von Beruf Finanzbeamter, beschäftigt sich aber in seiner Freizeit mit dem Thema Der Nobelpreis und seine Preisträger , alles in dieser Hinsicht interessiert ihn, er kennt die Preisträger sämtlicher Sparten auswendig, samt ihren Biografien, samt den letzten Details aus Kindheit und Jugend. Nur im Fall der Schriftstellerin Herta Müller ist er, wie er behauptet, nicht ganz auf dem Laufenden. Ich überlege kurz, winke dann aber ebenfalls ab. Zu Herta Müller fällt mir kein französischer Text ein, und die Nobelpreissprache Englisch spreche ich nicht so gut wie Französisch.) Beim Abschied umarmen wir uns, und ich denke: Nun ist es geschehen, die Magie wird universell. Und als sie mich fragen, ob ich an den kommenden Tagen nachmittags wieder hier sei, um ihnen auch noch die Räume zu zeigen, antworte ich: – Nachmittags führt meine Frau Sie durch die Räume. Sie ist von Beruf Übersetzerin, sie hat die Verse des von uns Verehrten in einige Weltsprachen übersetzt.
16
A M NACHMITTAG fahre ich mit meinem Wagen hinaus zu dem Ort, den Paula in der Karte angekreuzt hat. Als ich dort ankomme, steht sie neben ihrer Vespa, die wir in einem kleinen Schuppen zurücklassen. Dann fahren wir eine schmale, mehrfach gewundene Panoramastraße hinunter ans Meer und weiter an der Küste entlang. Nach einer Viertelstunde biegen wir von der viel befahrenen Hauptstraße ab und nehmen einen hellen, staubigen Feldweg hinunter an den Strand. Wegen der Schlaglöcher und der überall herumliegenden Steinbrocken muss ich sehr langsam fahren, ich frage Paula, ob die Canti della Sicilia unsere Fahrt begleiten sollen, und sie ist erstaunt, dass ich eine CD mit diesen Liedern dabeihabe. Ich fahre im Schritttempo, und wir hören Rosas dunkle Geisterstimme, es ist die Stimme einer Erinnye, die lauter Vergehen beklagt und keine Ruhe geben wird bis ans Ende der Tage. Ich möchte Paula nach Rosa und ihrer Musik fragen, sicher weiß sie darüber viel, aber ich lasse es bleiben, denn es erscheint mir noch immer fehl am Platz zu sein, nach der letzten Nacht über solche Themen mit ihr zu sprechen. ( Gegenwart, pure Gegenwart, ich suche das augenblickliche Sprechen … )
Wir erreichen dann eine Kreuzung, der schottrige Weg verzweigt sich nach rechts und links, wohin auch jeweils einige Schilder mit mir unverständlichen Aufschriften verweisen, geradeaus aber führt nur ein unauffälliger Pfad. Paula bittet mich, diesen Pfad zu nehmen, und so
rollen wir noch langsamer als zuvor bis zu einem hohen Zaun aus trockenem, schwerem Schilf. In der Mitte befindet sich ein Gartentor, daneben stelle ich den Wagen dann ab. Der Zaun hat eine Länge von vielleicht zweihundert Metern, dann schließen sich an beide Seiten hohe Felsen an, so dass das gesamte Grundstück zwischen zwei Felsmassiven liegt. Paula öffnet das Tor, und wir gehen hinein, und ich kann nicht glauben, was ich jetzt sehe.
Wir befinden uns in einem richtigen Garten, den in der Mitte ein schmaler Gehweg bis zu einem frei stehenden Gartenhaus
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