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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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wild umherschwingenden Haare, die mir in der Dunkelheit erscheinen wie die einer besessenen Tänzerin. Ihre festen, erregten Brüste, die jede Berührung hinauszögern und bei jeder Berührung fester und härter werden. Ihr heftiger Atem, der den Stand der starken Erregung signalisiert, plötzlich absinkt, verstummt und umso lauter und stärker wieder von Neuem beginnt. Ihre Zunge, die meine Zunge sucht und nach ihr schnappt und sie zurückdrängt und glatt streicht und mit scharfen Bewegungen
mittendurch schneidet. Ihre Lippen, die meine Lippen festhalten und weiter festhalten und ansaugen, als sollten diese Lippen durch die heftige Reibung und den nicht nachlassenden Druck ein Feuer entzünden.

    Leicht, wie ein Fisch, gleitet sie davon. Sie durchschwimmt meinen Körper pfeilschnell, dreht sich um die eigene Achse, folgt den aufschäumenden Welleninseln, schnellt ihnen hinterher, reitet auf ihnen voran, ist kaum noch zu sehen, löst sich im Dunst der Ferne langsam auf.

    Später schläft sie eine kurze Weile. Ihr halber Körper liegt auf mir, unendlich leicht, als habe er jede Schwere verloren. Ihr Kopf liegt auf meiner Brust, und ich atme den Haarduft ein (der mir wie ein Garten-Windduft erscheint). Ich küsse sie leicht auf die Stirn, aber sie scheint es nicht mehr zu bemerken, ich streiche ihr mit den Fingerkuppen vorsichtig über den Rücken. Es ist, als müsste ich sie jetzt zur Ruhe bringen und die hohe Erregung besänftigen. Und so spiele ich wahrhaftig mit ihr wie mit einem Kind, das man ins Bett bringt und dem man Beruhigendes sagt. Gedichte? Verse? Isole che ho abitato/ Verdi su mari immobili – geht es mir durch den Kopf, und ich wiederhole es immer wieder. (Verse des Nobelpreisträgers sind es, Alberto schenkte mir einen Band mit seinen Gedichten, und manche von ihnen weiß ich mittlerweile auswendig.)

    Als ich diese Verse höre und später auch flüstere, erinnere ich mich an unsere verzweifelt stumme Begegnung
im Haus dieses Dichters. Anfänglich hatte ich (wie ein guter, fleißiger Schüler) die Idee, seine Verse auswendig lernen zu müssen, um Bekanntschaft mit Paula zu machen. Als ich sie aber las und immer wieder las, kamen sie mir wie Verse eines alten Mannes vor, der mit Paula verwandt war. Ein Onkel, der Bruder ihres Vaters, ein kinderloser Mann. Ich mochte diese Verse sehr, in meiner Ahnungslosigkeit erschienen sie mir wie pures Sizilien , ohne dass ich das weiter hätte begründen oder erklären können, ich fühlte mich während ihrer Lektüre eingeweiht in den großen sizilianischen Raum (und ich verstand, dass die sizilianische Literatur anders, ganz anders ist als die italienische und darüber hinaus überhaupt anders, ganz anders ). Du wirst irgendwann noch zum Sizilianisten , dachte ich (und war erstaunt, als ein bedeutender Vertreter des Faches Ethnologie aus heiterem Himmel wenig später behauptete, eigentlich sei er von Beruf Sizilianist ).

    Sie bewegt sich nicht, sie liegt seitlich auf meiner Brust, als seien wir seit Jahrzehnten ein Paar. Woher rührt denn bloß diese tiefe Vertrautheit? denke ich und setze meine Gedankenspiele im Dunkeln unentwegt fort. Leichtes, flottes, unbekümmertes Denken und Sprechen! Ich bleibe wach, ich lasse meine Hände nicht ruhen, ich bin nicht müde, und ich will nicht schlafen. Schlafen erscheint mir wie ein Verrat, und so denke ich weiter und flüstere wie ein kleines Kind, das sich ein neues, ihm zuvor nicht bekanntes Wunder erklärt und nicht zurecht damit kommt und brabbelt und stottert.

    Ich beginne etwas zu träumen, als sie sich plötzlich wieder regt. Sie fragt, ob ich schlafen wolle. Ich sage: Was soll ich?! Schlafen?! – und da höre ich, während sie sich erneut leicht erhebt und über mich beugt und langsam wieder auf mich herabsinkt, ihr tiefes Lachen.

15
    A M FRÜHEN Morgen sagt sie, dass sie uns jetzt das Frühstück machen werde und dass wir heute gemeinsam unten im Innenhof frühstücken, zusammen an einem Tisch. Sie küsst mich ein letztes Mal und verschwindet dann auf den Flur, und ich liege noch eine Weile auf dem Bett und höre lauter Verse und Sprachen und viel Gelächter, und in mir geht es wild durcheinander. Ich stehe auf und gehe kurz ins Bad, ich trinke etwas Wasser und dusche mich, aber die wilden Stimmen begleiten mich, und ich vermute schließlich, dass ich etwas Sizilianisches höre, sizilianischen Dialekt, ganz ähnlich den Texten meiner Ex-Braut Rosa Balistreri. Hat Paula in der tiefen Nacht etwa

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