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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gesungen?

    Später sitzen wir wahrhaftig unten im Innenhof zusammen wie ein Paar, das auf der Durchreise sein könnte. Wir lieben uns, wir machen unsere erste gemeinsame Reise, wir hören auch beim Frühstück nicht auf, einander zu berühren, wir haben diese großen, geweiteten Augen, wie sie nur während langer Liebesnächte entstehen.
Ich kann mir nicht vorstellen, wieder zurück in den Alltag zu finden, ich sage das aber nicht, sondern frage sie nach Rosa Balistreri, und sie erzählt davon, wie sie deren Lieder zum ersten Mal gehört und dann später ebenfalls gesungen habe. Ich habe es gewusst, denke ich, sage aber auch das nicht laut, ich möchte jetzt nicht weiter zurück in die Vergangenheit, sondern diese starke Gegenwart am Leben erhalten. Ich sage, dass ich nach dem Frühstück am liebsten wieder auf mein Zimmer gehen würde, um dort auf sie zu warten, sie antwortet, dass es ihr genauso gehe, sie aber am Morgen viel zu tun habe und keine Vertretung auftreiben könne. Stattdessen sollten wir uns am Nachmittag treffen, dann werde sie mir zeigen, wo sie im Meer schwimme, es sei ein sehr schöner, nur wenigen bekannter Ort, es sei ihr kleines Landgut am Meer , das sie vor Jahren gekauft habe und in dem sie sich häufig aufhalte.

    Sie holt eine kleine touristisch bunte Karte vom Ort und seiner Umgebung, und sie zeichnet die Stelle ein, wo wir uns am Nachmittag treffen. Ich helfe ihr beim Abräumen, und als wir zusammen in der Küche stehen, küssen wir uns so lange und selbstverloren, bis die ersten anderen Gäste im Innenhof erscheinen. Als ich die Stufen zu meinem Zimmer hinaufgehe, spüre ich eine zweite Haut, sie ist durch die Berührung in der Nacht entstanden, und sie erlebt die Welt wahrhaftig anders als die erste, alltägliche, die ein sehr zurückgezogenes Leben zu führen gewohnt ist. Die zweite Haut aber ist hochempfindlich und reagiert auf kleinste Reize. Sie spürt das Sonnenleuchten auf einem Handlauf, sie wittert die bittere,
schwere Erde in den großen Oleanderkübeln, sie ist warm und geschmeidig, und es verlangt sie nach Wind und nach Luft und nach Wasser und Meer.

    ( Wann war ich das letzte Mal im Meer? frage ich mich und kann mich nicht mehr genau erinnern. Mehr als zehn Jahre ist es gewiss her, aber wo war es? In Portugal habe ich während eines Kongresses über Ethnologische Forschung im Mittelmeerraum einmal im Meer gebadet, daran erinnere ich mich, und ich erinnere mich an die Kindertage, als ich mit den Eltern und Brüdern jedes Jahr auf eine andere Nordseeinsel fuhr. Wir haben sie nacheinander alle besucht, Borkum, Juist, Spiekeroog, Wangeroog, die Eltern liebten das Meer und trieben uns durch den heißen Sand, rasch, rasch, dass ihr euch nicht die Füße verbrennt. Am frühen Abend saßen wir in kleinen Kurhotels und spielten Mensch ärgere Dich nicht, es war das einzige Spiel, in dem ich manchmal gewann und dadurch die Wut der Brüder auf mich zog. Mein Gewinnen reizte sie, und sie zahlten es mir heim, indem sie mich am nächsten Tag in einer Umkleidekabine einschlossen und dort in der Wärme stundenlang hocken ließen, bis die Eltern mich endlich fanden: Warum rufst Du uns nicht? Warum lässt Du das mit Dir machen? Du sollst um Hilfe schreien, hörst Du, Du musst lernen, um Hilfe zu schreien! Zu den Mahlzeiten gab es jeden Tag völlig verkochten Fisch mit einer dicken, hier und da aufgeplatzten, fladdrigen Panade, das alles lag neben den in Öl und Butter schwimmenden Bratkartoffeln, schwere, unverdauliche, von Speck zersetzte Bratkartoffelhaufen, die Rache der deutschen Küche am Meer …)
    Oben in meinem Zimmer ist die schöne Nacht noch vollkommen gegenwärtig. Ich lege mich für eine Weile erneut auf das Bett und starre aus dem Fenster, das schwere Sommerblau des Himmels wirkt jetzt so, als sei es das Betttuch der Nacht gewesen. Ich überlege, wie ich den Tag bis zum Nachmittag verbringe. Arbeit kann ich mir keine vornehmen, nein, heute nicht. Und so nehme ich mir vor, rein gar nichts zu tun, ich werde ziellos durch den Ort wandern, ich werde hier und da einen Kaffee trinken, viele Zeitungen lesen, aber ich werde nichts notieren und sammeln, nein, ich werde diesen Tag meiner zweiten Haut gönnen.

    Als ich das erste Café betrete, ziehe ich sofort Menschen an, die mit mir sprechen wollen. Heute früh wollen sie sich aber nur mit mir unterhalten, sie stehen neben mir und nippen ebenfalls an ihrem Kaffee und erzählen von der Ernte in ihrem Hausgarten ( Interessieren Sie die

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