Das Kind, Das Nicht Fragte
durchläuft. Die Bäume zu beiden Seiten stehen dunkel über der braunen, aufgelockerten Erde. Orangen und Zitronen liegen auf diesem Boden, und an die Bäume schließen sich Blumenrabatten und Gemüseanpflanzungen an, sie werden von großen Pergolen überdacht. Ich bin zuerst am Eingang des Grundstücks stehen geblieben und folge Paula, die direkt auf das Gartenhaus zugeht, noch nicht, langsam schleiche ich nach einer Zeit des Wartens hinter ihr her und versuche, mich an die Namen der Blumen, an denen ich vorbeikomme, genau zu erinnern ( Lupinen, ja, blaue Lupinen! ). Als ich endlich auch das Gartenhaus erreiche, steht die Eingangstür offen, und ich sehe gleich, dass das Haus nur aus einem einzigen, großen Raum besteht, den man auf der anderen Seite zum Strand hin verlassen kann. Auch diese Tür hinaus zum Strand ist geöffnet, so dass in der großen Hitze beinahe ein kühl wirkender Luftzug zu spüren ist. Er kommt vom Meer, wandert durch das Haus und verfängt sich in der schmalen, zwischen
den Felsen liegenden fruchtbaren Landschaft des Gartens.
Paula steht bereits draußen am Meer, sie blickt auf seine weite, glatte Fläche, die wie ein goldener Spiegel ins Endlose schimmert. Ich aber verlasse das kleine Gartenhaus nicht sofort, sondern schaue mich um. Alle Wände des Hauses sind voll mit Bücherregalen, auf denen sich bunt und dicht gedrängt Hunderte von Lektüren reihen und stapeln. Zum Strand hin steht direkt unterhalb der breiten Fensterfront ein großes, bequemes Bett, und davor befinden sich einige leichte Sessel und ein Tisch, auf dem viele Zeitungen und Zeitschriften liegen. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Eisschrank neben einem kleinen Herd und einer Küchenanrichte, das alles sieht handlich und praktisch aus, als habe der Mensch, der das benutzt, lange Erfahrung im Umgang mit diesem unglaublichen Raum.
Denn, wahrhaftig, dieser Raum ist unglaublich. Als ich nämlich das Haus verlasse und hinaus zum Strand gehe, erkenne ich zu beiden Seiten jetzt wieder die schweren, Schatten spendenden Felsen und die kleine Bucht, die von diesen Felsen gerahmt wird. Sie ist nicht breiter als vielleicht einhundert Meter, ein heller, glitzernder, stiller Saum, und dahinter scheint das Meer nur noch zu schweben. Es rollt nicht heran, es zeigt keine Wellen, es kauert wie eine durchsichtige, hellgrüne, dann ins Blaue übergehende Masse hinter dem feinen Saum und strahlt, als liege an seinem Horizont das ersehnte Sonnenland.
Ich bin von diesem plötzlichen Ausblick so ergriffen, dass ich nicht mehr weitergehe, die Bucht mit ihren Felsflanken und der weiten Öffnung ins Freie hat etwas Griechisches, Insulares, nirgends ist noch etwas anderes zu sehen außer diesem ganz und gar geschlossenen Bild, das wie ein Strandbild der puren Fantasie erscheint: Hier ist Odysseus gestrandet, hier wäre er mit seinen Gefährten beinahe verhungert, bevor er den Garten hinter dem Haus angelegt hat und ein paar Früchte und etwas Gemüse ernten konnte. Zum Strand hin hat das Haus eine kleine Terrasse, auf der einige bequeme Stühle und mehrere Tische unter Sonnenschirmen stehen, auch das erinnert nicht an Italien, sondern an Griechenland, immer wieder denke ich dieses dunkle, mit dem Wort Sizilien so sehr verwandte Wort. ( Im Grunde hat Rosas Gesang ebenfalls etwas Griechisches, das Wehklagen, das Lamento und diese zersprungene, nicht loszuwerdende Sehnsucht sind griechisch, denke ich.)
Ich stehe noch immer auf der Terrasse, als Paula vom Strand zurückkommt. Sie schaut mich an und muss lachen, sie sieht genau, wie sehr mich das alles hier überrascht.
– Damit hast Du nicht gerechnet, gib’s zu! sagt sie.
– Wo sind wir? frage ich. Ich überlege andauernd, in welchem Zauberland wir eigentlich sind.
– Tja, sagt sie, das habe ich mich auch gefragt, als ich diese Bucht hier zum ersten Mal sah. Hundert Meter Strand, Felsen, Schatten und bester fruchtbarer Boden, ideal für einen hier leicht zu bewässernden Garten. Vor vielen Jahren konnte ich das Grundstück pachten, niemand wollte es haben, wozu sollte es taugen? Ich habe es durch einen Zaun vom übrigen Land abgegrenzt
und später gekauft. Nach und nach habe ich den Garten angelegt, die Rabatten, die Gemüse-und Obstpflanzungen, die Orangen-und Zitronenbäume. Und schließlich habe ich das kleine Haus vor den Strand bauen lassen, das war damals in kaum einer Woche geschehen. Ich habe das Gelände »Mein Landgut« genannt, von Mai bis Oktober schlafe ich hier fast
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