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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Erntezahlen, professore? Ich könnte eine Aufstellung der letzten Jahre für Sie machen), von Oliven und Wein ( Probieren Sie einmal meinen Weißwein, professore, er ist unvergleichlich, ich werde Ihnen einige Flaschen in die Pension schicken lassen), vom Unterricht in der Schule ( Die Kinder lernen die sizilianische Geschichte nicht mehr, alles ist jetzt europäisch, und immer geht es gleich um Napoleon, halb Europa und schließlich die ganze Welt) , oder von den bevorstehenden Festen ( Diesmal wird die Miss Sicilia in unserer Stadt gewählt, professore. Was halten Sie von so einem Spektakel? Es ist gut für den Tourismus, aber es ist albern und prollig. Aus unserer Stadt haben sich bisher nur zwei Mädchen gemeldet, ausgerechnet die Schönste des Ortes ist nicht dabei, sie hätte große Chancen. Es ist die Tochter des
Bürgermeisters, die Sie nie zu sehen bekommen, weil die Familie sie wie ein weißes Täubchen in einem goldenen Käfig versteckt).

    Später schaue ich kurz bei Alberto vorbei, und wir setzen uns nach draußen, wo er mir wieder seinen fürchterlichen Earl-Grey-Morning-Tea serviert. Ich erkundige mich nach der Tochter des Bürgermeisters und erfahre, dass sie auf ein nahes, teures Internat geht. Alberto hält sie für eine sehr seltene Mischung von außerordentlicher Schönheit und beachtlicher Intelligenz, und er erklärt mir auch umständlich, woher das schöne und kluge Kind sein Äußeres und die Geistesgaben habe (vom Vater hat sie diese Gaben angeblich nicht). Ich frage ihn, ob es möglich sei, dieses Mädchen für mein Projekt zu gewinnen, aber er winkt ab, nein, das sei völlig unmöglich, an Adriana Bonni komme niemand heran, selbst er nicht, obwohl er doch die besten Beziehungen zu den Familien der Stadt unterhalte.

    Als ich Alberto verlassen will, hält er mich kurz am Arm fest und fragt:
    – Ist alles in Ordnung, Beniamino?
    – Aber ja, Alberto, alles in Ordnung. Warum fragst Du?
    – Du bist heute ein wenig anders als sonst.
    – Bin ich das? Aber wie anders, was meinst Du?
    – Du bist etwas verträumt, mir kannst Du nichts vormachen.
    – Oh, so etwas fällt Dir auf?
    – Beniamino, wer ist es?
    – Wer ist was?
    – Beniamino, ich habe immer auf den Moment gewartet, in dem es bei Dir zündet. Irgendwann wird er in Mandlica einer
Frau begegnen, die ihn an sich reißt und nicht mehr loslässt, so habe ich stets gedacht. Pass auf, Beniamino, lass Dich nicht einwickeln, ich gebe Dir diesen guten Rat.
    – Du redest ja wie meine Brüder, Alberto. Die haben mich auch vor den Frauen Siziliens gewarnt, als sei ich ein kleines Kind, das man mit solchen Ratschlägen in die weite Welt hinausschickt.
    – Vielleicht bist Du ja ein solches Kind, Beniamino, man weiß das selbst nie genau.
    – Du enttäuschst mich, Alberto. Und weil Du mich enttäuschst, verschwinde ich jetzt. Beim nächsten Mal reden wir über Deine Träumereien, und das dann ganz offiziell, für mein Projekt.

    Schließlich gehe ich auch die schmalen Wege zum Haus des Nobelpreisträgers hinauf. Das Haus ist verschlossen, aber unten im Innenhof, neben der Freitreppe, die in den ersten Stock führt, steht im Schatten ein einfacher Stuhl. Ich setze mich und schließe die Augen. Ich komme mit dem Morgen noch nicht zurecht, ich trage die Nacht spazieren und sehne mich danach, nur noch mit meinem zweiten Körper zu leben. Dieser zweite Körper hat seine Magie, er zieht die kleinen Dinge an, die Farben, die Gerüche, das Licht, den Wind. Laufend gehen mir die sizilianischen Lieder und Gesänge durch den Kopf, das wilde Durcheinander ist einfach nicht zu beruhigen, ich jedenfalls habe dagegen noch kein Mittel gefunden.

    Als ein französisches Ehepaar aus Lyon erscheint und den Innenhof betritt, halten sie mich für einen Führer,
der sie durch die alten Kindheitsstuben oben im ersten Stock begleiten wird. Ich widerspreche nicht, sage aber, dass diese Räume nur nachmittags geöffnet seien. Sie fragen weiter, und ich beginne (auch um mich abzulenken) zu erzählen, und plötzlich kann ich sogar recht gut Französisch sprechen. Ich präsentiere eine lange Erzählung, und ich wundere mich, wie viel ich über das Leben des Nobelpreisträgers weiß. (Ich habe nur Aufsätze und keine ausführlicheren Bücher über sein Leben und Werk gelesen.)
    Während ich aber so lebhaft erzähle, glaube ich mit Paula in Verbindung zu treten, ja, es ist verrückt, aber es ist so, als hätte ich ihren Part übernommen und erzählte nun in freier und weit

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