Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
wären vorbereitet. Aber was will man machen, wenn sich ein Kind einfach nicht unterrichten lässt.«
»Nicht unterrichten lässt? Was meinen Sie damit?«
»Er war ausfallend, hat den Unterricht gestört und ließ jeglichen Respekt vermissen. Er hat immer versucht, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Uns blieb kaum etwas anderes übrig, als den Einfluss seiner Anwesenheit auf die anderen Schüler so gering wie möglich zu halten.«
»Er wurde isoliert?«
»Er hat sich selbst isoliert. Wie gesagt, sein Fehlstundenkonto sah haarsträubend aus. Und wenn er da war, hätte er genauso gut nicht da sein können.« Die Schulleiterin schüttelte den Kopf, aber ihr steifgesprühtes Haar bewegte sich keinen Millimeter. »Diese Aggression. Diese blinde, tiefsitzende Wut. Er ist auf eine Lehrerin losgegangen, Mr. Curtice. Das war letztlich der Grund für seinen Ausschluss aus der Schule. Ein Angriff aus dem Nichts heraus, wie alle außer dem Jungen berichtet haben.«
Leo runzelte noch einmal die Stirn und wartete darauf, dass Ms. Bridgwater fortfuhr.
»Die Lehrerin, Miss Dix, hatte ihn gebeten, laut vorzulesen. Bloß eine simple Passage aus dem Text, den die Klasse gerade durchnahm. Der Junge war etwas zurückhaltender an dem Tag, für ihn eigentlich sein bestes Verhalten, und die arme Josie hielt das für eine gute Gelegenheit, ihn einzubinden.« Die Schulleiterin zog ein Gesicht, das so viel bedeutete wie: Eigentlich hätte ihre Kollegin es besser wissen müssen. »Sie hat ihn freundlich gebeten, und der Junge hat sich geweigert. Sie ließ nicht locker, und da hat er sie beleidigt. Eine Schlampe hat er sie genannt, Mr. Curtice. Josie hat bewundernswert beherrscht reagiert – sehr viel beherrschter, als ich es gewesen wäre, das kann ich Ihnen versichern –, aber als sie dann zu seinem Pult gegangen ist und ihm das aufgeschlagene Buch hingelegt hat, hat er es weggeschleudert und ist Josie an die Kehle gesprungen. Er hat sie gewürgt – oder hätte sie gewürgt, wenn ihn die anderen Jungen aus der Klasse nicht davon abgehalten hätten.«
»Und deshalb wurde er ausgeschlossen?«
»Genau.«
»Endgültig?«
»Ja.«
»Nach einem Halbjahr, sagen Sie? Einem einzigen? Ist das nicht unüblich?«
»Normalerweise schon, aber nicht bei jemandem mit so einer Vorgeschichte. Und wie ich schon sagte, man hatte uns ja vorgewarnt. Wir waren auf Ärger gefasst. Wir waren die ganze Zeit darauf eingestellt, wenn nötig, drastische Maßnahmen zu ergreifen.«
»Gut«, sagte Leo, »das verstehe ich. Aber ich hatte immer angenommen, ein Ausschluss aus der Schule wäre das letzte Mittel. Ist das nicht ein Prozess? Werden die Sanktionen nicht Schritt für Schritt verschärft?«
»Die Sanktionen werden in dem Maße verschärft, wie es das Verhalten des Betreffenden erfordert. Es war weiß Gott nicht sein erster Verstoß, und der Junge hat immerhin eine Lehrerin tätlich angegriffen. Was hätten wir danach denn anderes tun können, als ihn von der Schule zu verweisen?«
»Das verstehe ich, aber hätte ein vorübergehendes Schulverbot denn nicht genügt? Oder vielleicht, ich weiß nicht …«
Ms. Bridgwater ließ Leo nicht ausreden. »Ich muss mein Kollegium schützen. Ich habe Kinder in meiner Obhut. Und wenn ich bedenke, was der Anlass für Ihren Besuch ist, kann ich Ihre Missbilligung ehrlich gesagt nur schwer nachvollziehen.«
»Missbilligung? Nein, ich …« Leo rutschte auf seinem Stuhl herum.
Ms. Bridgwater ließ ihn nicht aus den Augen, und er sah zum Fenster, um ihrem Blick auszuweichen. Das Büro der Schulleiterin lag im ersten Stock auf der Vorderseite des Hauptgebäudes – ein Sechziger-Jahre-Betonklotz in verschiedenen Grautönen –, und der Schulhof davor füllte sich allmählich mit Schülern. Ein Junge schlängelte sich auf den Eingang zu, allein, und kramte dabei in seinem Rucksack. Hinter ihm folgte eine Traube schnatternder Mädchen.
»Sie haben Daniel kennengelernt, Mr. Curtice. Sie wissen, was er für ein Junge ist. Genauer gesagt, wozu er fähig ist. Wir haben beherzt gehandelt, und im Sinne unserer Schule und unserer Schüler kann ich dafür nur dankbar sein.«
Leo drehte sich um und sah sie an. Er nickte, zuerst langsam, dann schneller.
»So ungern ich das auch sage, Mr. Curtice, aber manchen Schülern ist einfach nicht zu helfen. Sie sind von Grund auf böse, so einfach ist das. Im Kern verdorben. Ich habe schon viele von ihnen gesehen, auch wenn die wenigsten so niederträchtig waren wie Daniel
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