Das Kind der Rache
vielleicht hast du recht. Der Wuchs war zu
üppig. Wenn du statt dessen ein paar kleine Kletterpflanzen
einsetzt und ein Spalier anbringst, könnte es sogar hübscher
aussehen als vorher.«
»Sheila, ich habe Alex keinen Auftrag gegeben, die Reben
zu stutzen! Bist du sicher, daß er es war?«
»Absolut sicher. Glaubst du, ich hätte ruhig zugesehen, wie
ein Fremder deine Reben abschneidet?«
Ellen ließ ihren Blick zum Haus schweifen. Aus irgendeinem
Grunde war sie sicher, daß Alex fortgegangen war. »Danke,
Sheila«, sagte sie zerstreut. Sie überquerte den Patio und betrat
das Haus. »Alex? Alex, bist du da?«
Stille umfing sie. Plötzlich begann das Telefon zu läuten.
Ellen riß den Hörer von der Gabel. »Alex«, rief sie in die
Muschel. »Alex, warum hast du das getan?«
Ein paar Sekunden Schweigen. Dann war Marsh' Stimme zu
vernehmen. »Ellen, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«
Wie ein Lehrer, der seine Schüler zur Ordnung ruft, dachte
Ellen. Meine besten Freundinnen sind ermordet worden, mein
Sohn ist, wie es scheint, unheilbar krank, und mein Mann tut
so, als ob mir das alles auch noch Spaß macht! In diesem
Augenblick wurde ihr klar, daß sie Marsh haßte. Als sie
antwortete, geschah es mit eisiger Ruhe. »Nichts Besonderes«,
sagte sie. »Nur daß sich die Wand in unserem Patio
merkwürdig verändert hat. Alex hat die Reben abgeschnitten.«
Eine längere Pause. Dann: »Alex müßte um diese Zeit doch
in der Schule sein.«
»Ich weiß, daß Alex um diese Zeit in der Schule sein
müßte«, erwiderte Ellen. »Aber aus irgendeinem Grunde hat es
ihm dort nicht gefallen. Oder aber er ist heute überhaupt nicht
in die Schule gegangen. Jedenfalls ist er nach Hause
gekommen und hat alle Reben abgeschnitten. Und jetzt ist er
weg. Frag mich nicht, wohin er gegangen ist, ich weiß es
nicht.«
Er spürte, daß sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs
war. »Beruhige dich bitte«, sagte er. »Ich komme jetzt nach
Hause und hole dich ab. Wir fahren nach Palo Alto.«
»Nach Palo Alto? Warum?«
»Dr. Torres hat mich angerufen«, antwortete Marsh. »Er ist
bereit, uns die Einzelheiten der Therapie mitzuteilen. Er will
uns endlich sagen, was mit Alex los ist.«
Ellen dachte nach. »Wir können doch nicht nach Palo Alto
fahren, ohne zu wissen, wo Alex steckt.«
»Wir können ihn suchen, wenn wir zurückkommen«, sagte
Marsh. »Wahrscheinlich ist er dann sowieso schon zu Hause.«
»Und wenn nicht?«
»Ich sagte schon, dann werden wir ihn suchen.«
Jetzt, dachte Ellen. Wir müssen ihn jetzt suchen. Aber es
gelang ihr nicht, die Worte über die Lippen zu bringen. Auf
einmal fühlte sie sich todmüde.
Sie ließ sich auf das Sofa sinken. Während sie auf Marsh
wartete, dachte sie an Raymond Torres. Raymond... Vielleicht
würde es ihm gelingen, Marsh davon zu überzeugen, daß Alex
am besten in der Klinik aufgehoben war. Nur Raymond konnte
ihrem Sohn jetzt noch helfen.
Alex stand auf dem Hügel, der den Blick auf die Hazienda
freigab. Die Entfernung zu seinem Elternhaus betrug knappe
tausend Meter.
Er wußte nicht, worauf er wartete. Was auch immer kam, er
war bereit.
Er hatte das Gewehr geladen und wiegte es in den Armen
wie ein Kind.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Cynthia Evans warf einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war spät, sie würde sich beeilen müssen. Und
Cynthia haßte es, sich zu beeilen. Aber diesmal ging es nicht
anders. Sie würde den Einkauf im Supermarkt so schnell wie
möglich hinter sich bringen und von dort zur Schule fahren, wo
sie ihre Tochter Carolyn abholen mußte. Wenn sie Glück hatte,
konnte sie um halb vier wieder zu Hause sein. Was wichtig
war, weil sie um diese Zeit den Gärtner bestellt hatte. Sie warf
die Haustür ins Schloß und ging zu ihrem BMW. Als sie
einsteigen wollte, traf ein Lichtreflex ihre Augen. Sie sah in die
Richtung, aus der er gekommen war. Ihr Blick wanderte über
die Mauern der Hazienda und streifte über die Hügel.
Der Junge.
Er saß immer noch an der gleichen Stelle. Kurz nach Mittag
war er gekommen und hatte sich auf den Boden diesseits der
Kuppe gekauert.
Sie wußte, wer das war. Alex Lonsdale. Gleich nachdem sie
ihn bemerkt hatte, war ihr klar gewesen, daß es Alex sein
mußte. Sie hatte den Feldstecher ihres Mannes aus dem Haus
geholt, um sich zu vergewissern. Wäre es ein Fremder
gewesen, Cynthia Evans hätte sofort die Polizei gerufen. Nach
dem, was gestern abend mit Valerie Benson passiert war,
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