Das Kind der Rache
mußte man vorsichtig sein. Aber wegen Alex die Polizei rufen?
Seine Mutter hatte schon genügend Sorgen. Sie, Cynthia,
würde dem nicht noch eine Anzeige hinzufügen. Zumal es
keinen Grund gab, warum Alex nicht ein paar Stunden auf dem
Hügel oberhalb der Hazienda sitzen sollte. Wenn er sich so
gern dort oben aufhielt, hatte er wohl Gründe dafür.
Trotzdem war es ihr unangenehm, daß der Junge dort saß
und das Haus beobachtete. Mein Mann hätte nicht nur die
Hazienda, sondern auch das umgebende Land kaufen sollen,
dachte sie. Es war einfach nicht gut, daß man das Haus vom
Hügel her einsehen konnte. Cynthia ärgerte sich, ihre
Privatsphäre war verletzt. Und das, obwohl ihr Mann soviel
Geld bezahlt hatte, damit sie endlich ungestört wohnen
konnten. Cynthia war versucht, doch noch die Polizei zu rufen.
Ob Ellen sich darüber ärgerte, wenn man ihren Jungen vom
Hügel holte, war nicht so wichtig. Aber es war schon so spät.
Wenn sie den Anruf machte, würde für den Einkauf nicht
genügend Zeit bleiben.
Sie startete den Wagen, legte den Gang ein, preschte zur
Ausfahrt des Anwesens und bog in den Hacienda Drive ein. Sie
war so in Eile, daß sie sich nicht einmal vergewisserte, ob die
automatischen Tore sich geschlossen hatten.
Alex sah dem BMW nach, bis er zu einem winzigen Punkt
geworden war. Er wußte jetzt, daß sich niemand mehr im Haus
befand. Er stand auf und kletterte den Hügel hinunter, das
Gewehr in der linken Hand. Fünf Minuten später stand er vor
dem Eingang der Hazienda.
Die Tore hatten sich verändert. Die Tore hätten aus Holz
sein müssen. Er konnte sich sehr genau erinnern, daß die Flügel
aus schweren Eichenbohlen gezimmert waren.
Auch der Innenhof war anders, als er ihn kannte. Der
Swimmingpool war neu. Auch die Hofpflasterung war neu.
Früher hatte der Untergrund aus gestampftem Lehm bestanden.
Während sich seine Erinnerungen mehr und mehr aus dem
Nebel der Vergangenheit herausschälten, durchschritt er das
Tor und ging auf das Haus zu.
Er hatte die Schwelle überquert und warf einen Blick in die
Runde. Gut, dachte er. Gut. Die Räume waren so, wie sie
immer gewesen waren. Alles sah vertraut aus, heimelig. Er
inspizierte die Zimmer und gelangte in den Raum, der damals
ihm gehört hatte. Damals war er glücklich gewesen. Das Haus
war vom Lachen seiner Schwestern erfüllt gewesen. Sein
Vater, den er achtete, und seine Mutter, die er liebte, waren
dagewesen. Es hatte Dienstboten gegeben. Und alles war gut
gewesen auf der Hazienda.
Bis die Gringos kamen.
Los ladrones. Los ladrones y los asesinos.
Der Schmerz, den er immer spürte, wenn die Erinnerungen
ihn überkamen, schnitt in sein Gehirn wie ein Messer. Er
verließ sein Zimmer und kehrte ins Erdgeschoß des Hauses
zurück.
Die Küche war anders, ganz anders. Wie verhext. Zwar gab
es noch die große Feuerstelle, aber der Kessel, der an einer
schweren Kette gehangen hatte, war verschwunden. Es gab
eine Menge neuer Geräte, die damals noch nicht erfunden
gewesen waren. Er verließ die Küche und ging ins Foyer
zurück.
Als sein Blick auf die Tür fiel, war er so erstaunt, daß es ihm
den Atem verschlug.
Es gab eine neue Tür! Er ging darauf zu und öffnete sie.
Eine Treppe, die in den Keller führte.
Das Haus hatte keinen Keller gehabt.
Er preßte das Gewehr an sich und ging die Stufen hinunter.
Ein Flur, ein großer Raum. Ein Spiegel. Vor dem Spiegel ein
Regal mit Spirituosen und Gläsern.
Dinge, die den Dieben gehören mußten.
Alex hob das Gewehr und schoß auf den Spiegel.
Der Spiegel explodierte, die Haschen und Gläser zerbarsten.
Alex wandte sich ab und erklomm die Treppe. Er würde sich
im Hof verbergen und den Mördern auflauern, an der Stelle,
wo sie seine Mutter und seine beiden Schwestern erschossen
hatten.
Die Stunde der Rache war gekommen...
»Mein kleiner Goldschatz, woher soll ich denn wissen, was
Alex da oben zu suchen hatte? Er hat auf dem Hügel gesessen
und auf unser Haus hinabgesehen, das ist alles.«
»Du hättest die Polizei rufen sollen«, sagte Carolyn. »Bei
Alex muß man vorsichtig sein, er ist verrückt.«
Cynthia warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu. »Du
bist herzlos, weißt du das?«
»Aber es ist doch wahr«, widersprach Carolyn. »Mama, ich
sage dir, der Junge wird von Tag zu Tag merkwürdiger. Lisa
hat er gesagt, er glaubt nicht, daß Mrs. Lewis von ihrem
eigenen Mann umgebracht worden ist. Er hat ihr auch gesagt,
daß noch mehr Menschen
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