Das Kind der Rache
dran glauben müßten. Und gleich
darauf wurde Mrs. Benson tot aufgefunden.«
Cynthia betätigte den Blinker und bog in den Hacienda
Drive ein. »Wenn du damit sagen willst, daß Alex der Mörder
der beiden Frauen ist, dann verschone mich bitte mit solchen
Weisheiten. Ellen Lonsdale ist eine meiner besten
Freundinnen, und ich lasse nicht zu, daß du...«
»Und wenn sie die Königin von England ist, ihr Sohn hat
eine Schraube locker!«
»Das reicht jetzt, Carolyn!«
»Sei doch nicht so empfindlich, Mama. Ich will damit nur
sagen...«
Cynthia schnitt ihrer Tochter das Wort ab. »Ich verbiete dir,
so über andere Leute zu reden. Ich will jetzt nichts mehr davon
hören.« Aber dann fiel Cynthia ein, daß sie selbst ein sehr
unangenehmes Gefühl gehabt hatte, als sie Alex auf dem Hügel
sitzen sah. Sie lenkte ein. »Ich mache dir einen Vorschlag. Du
versprichst mir, daß du nicht mehr so abfällig über einen
Schulkameraden sprichst, und ich verspreche dir, daß ich die
Polizei anrufe, sobald wir zu Hause sind. Einverstanden?«
Carolyn nickte. Schweigend fuhren sie die steil ansteigende
Straße hinauf. Das Haus kam in Sicht.
»Das ist mal wieder typisch«, sagte Carolyn.
»Was ist typisch?« fragte Cynthia.
»Du hast das Tor offengelassen. Wenn mir so was passieren
würde, würdest du mir eine Woche Hausarrest verpassen.«
Und wieder ärgerte sich Cynthia. Einmal, weil sie in Gegenwart ihrer Tochter nicht laut fluchen durfte. Und zum
zweiten, weil sie in der Tat vergessen hatte, das Tor zu
schließen. Aber was konnte schon passieren? Schließlich war
sie nur eine Stunde weg gewesen. Und im Hof war niemand zu
sehen. Sie passierten den Torbogen und fuhren bis vors Haus.
Sie stiegen aus. »Wenigstens brauche ich nicht mehr die
Polizei zu rufen«, sagte Cynthia nach einem Blick auf den
Hügel. »Er ist nicht mehr da.«
»Diebe«, sagte eine haßerfüllte Stimme. »Mörder.«
Cynthia erstarrte vor Schreck.
»Wer ist da?« flüsterte sie.
»Oh mein Gott«, hörte sie Carolyn sagen. »Es ist Alex,
Mama, es ist Alex.«
»Nur die Ruhe«, sagte Cynthia. »Sprich nicht mit ihm,
Carolyn. Ich kümmere mich um ihn.« Sie hob die Stimme.
»Alex? Bist du es?«
Alex trat aus dem Schatten der Mauer. Er hielt das Gewehr
auf Cynthia und ihre Tochter gerichtet. »Ich bin Alejandro«,.
wisperte er.
Er hatte blutige Schrammen am linken Auge und an der
Schulter. Ob die Verletzungen ihm Schmerzen bereiteten, war
nicht zu erkennen. Mit langsamen Schritten ging er auf die
Frau und das Mädchen zu.
»Dort hinüber!« befahl er ihnen. Er deutete mit dem Gewehrlauf auf die südliche Umfriedungsmauer der Hazienda.
»Tu, was er sagt«, flüsterte Cynthia ihrer Tochter zu. »Tu,
was er sagt, und alles wird sich in Wohlgefallen auflösen.«
»Aber der Junge ist verrückt, Mama!«
»Pssst! Schweig jetzt und tu, was er sagt.« Sie beobachtete
aus den Augenwinkeln, wie ihre Tochter um den Wagen
herumging, und betete zu Gott, daß Carolyn nicht versuchen
würde, zum Tor zu laufen. Nach einigen Sekunden, die der
Mutter wie eine Ewigkeit vorkamen, stand das Mädchen vor
ihr. »Wir werden tun, was er will«, sagte Cynthia. »Wenn wir
keinen Widerstand leisten, kann uns nichts geschehen.«
Sie nahm ihre Tochter an der Hand und ging in die Richtung,
die der Junge ihnen angewiesen hatte. »Was ist eigentlich los,
Alex?« fragte sie. »Was willst du?«
»Venganza«, sagte Alex. »Venganza para mi familia.«
»Rache, Alex?«
Alex nickte. »Si.« Er folgte Cynthia und Carolyn Evans, die
auf die Mauer zugingen.
Die Mauer war, was sie an jenem Tag gewesen war. Zwar
hatten die Gringos die Stellen, die vom Blut seiner Mutter und
seiner Schwestern getränkt waren, frisch gekalkt, um die
Spuren zu verwischen. Aber Alex ließ sich nicht täuschen. Die
Einschüsse der Kugeln waren noch deutlich zu erkennen.
Und jetzt war die Stunde der Abrechnung gekommen.
Endlich.
Ob die Gringa so tapfer sterben würde, wie seine Mutter
gestorben war? Ob sie ihn mit der gleichen Verachtung strafen
würde, die seine Mutter damals gegenüber den Mördern
gezeigt hatte?
Sicher nicht.
Sie würde angesichts des Todes um Gnade winseln, wie es
die Art der Gringos war.
»Warum?« hörte er sie fragen. »Warum tust du das? Was
haben wir dir getan?«
Was hatten meine Mutter und meine Schwester den Gringos
getan, von denen sie umgebracht wurden? dachte Alex. Aber
ihm blieb keine Zeit, über diese Frage nachzudenken.
Die Stunde der Wahrheit.
Er
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