Das Kind der Rache
Alex?« fragte Kim und deutete auf
den blutigen Schnitt an seiner Augenbraue.
Alex nickte.
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Alex. Er durchschritt den Flur und
blieb vor dem Eingang zur Küche stehen. Er hatte Carol und
Lisa bemerkt, die ihn starr vor Schreck ansahen. »Sie brauchen
keine Angst zu haben, Mrs. Cochran«, sagte Alex. »Und du
auch nicht, Lisa. Ich werde euch nichts tun.«
Carol tat einen Schritt nach vorn. »Kim, komm sofort zu
mir!«
Die Kleine trat unschlüssig von einem Bein aufs andere.
Schließlich lief sie der Mutter in die Arme.
Carol hob den Blick. »Verlasse das Haus, Alex«, sagte sie,
mit einer Sicherheit, die ihr selbst rätselhaft vorkam. »Geh und
laß uns in Frieden.«
Lisa sah die Leere in seinen Augen. Es waren die Augen
eines Toten. »Bitte, Alex«, flüsterte sie. »Geh!«
»Ich bin gekommen«, sagte Alex, »um dir zu sagen, daß es
mir leid tut. Es tut mir leid, daß sie sterben mußten. Aber ich
bin nicht der Mörder. Ich meine, Alex hat niemanden
umgebracht. Der andere hat's getan.«
»Es tut dir leid?« sagte Lisa. »Wie kannst du...« Ihr Blick
heftete sich auf die Waffe in seiner Hand.
»Ich bin nicht Alex«, sagte er. »Ich bin gekommen, damit du
das verstehst. Alex ist tot.«
»Tot?« echote Lisa. »Alex, was sagst du da für einen Unsinn?«
»Er ist tot«, wiederholte Alex. »Er ist damals bei dem
Autounfall ums Leben gekommen. Ich erkläre euch das, damit
ihr nicht meint, ich wäre der Mörder.« Er sprach mit
schmerzverzerrtem Gesicht. »Alex hat dich geliebt. Ich
verstehe zwar nicht, was das bedeutet, aber ich weiß, daß er
dich geliebt hat. Du darfst Alex nicht vorwerfen, was ich getan
habe. Er hat vergeblich versucht, die Morde zu verhindern.«
Die Tränen schössen ihm in die Augen. »Dr. Torres ist
schuld«, flüsterte er. »Ich wußte nichts von seinen Plänen. Er
hat meine Erinnerungen blockiert, und so erfuhr ich nichts.
Aber Alex ist ihm auf die Spur gekommen. Er hat versucht, Dr.
Torres an seinen Verbrechen zu hindern. Aber Alex ist tot,
deshalb hat er keine Macht über andere.« Mit einer brüsken
Bewegung wandte sich Alex ab. Er stolperte hinaus und
verschwand in der Nacht. Ein paar Sekunden später hörte
Carol, wie der Motor eines Wagens gestartet wurde. Und dann
vernahm sie die Stimme ihrer kleinen Tochter. Sie drückte Kim
an sich.
»Was ist los mit Alex?« fragte Kim.
Carol schluckte. »Er ist krank, mein Kleines«, flüsterte sie.
Sie gab das Mädchen frei und ging zum Telefon. »Ich werde
die Polizei anrufen.«
»Nein!« sagte Lisa. »Laß ihn, ich bitte dich darum. Er wird
jetzt niemandem mehr etwas tun. Er ist gekommen, um uns das
zu sagen. Er hat jetzt nur noch einen einzigen Wunsch: Er will
sterben. Und diesen Wunsch müssen wir respektieren. Er hat
ein Recht darauf, daß wir uns so an ihn erinnern, wie er vor
dem Unfall war. Weißt du noch, wie er mich zum Abschlußball
der Schule abgeholt hat?«
Ein paar Herzschläge lang sah Carol ihrer Tochter in die
Augen. Dann nahm sie das Mädchen in den Arm. »Du hast
recht«, sagte sie leise.
»Und du bist sicher, daß du mich hier nicht mehr brauchen
kannst?« fragte Jim Cochran.
Marsh war vor die Haustür getreten. Er spähte ins Dunkel, in
der Hoffnung, seinen Sohn zurückkehren zu sehen. Aber
vergeblich. »Danke, Jim«, sagte er. »Fahr jetzt zu deiner
Familie zurück. Sag Carol und den Mädchen, ich verstehe sehr
gut, daß sie nicht mitgekommen sind.«
Jim Cochran musterte seinen Freund mit einem nachdenklichen Blick. »Ich habe dir ja gar nicht gesagt, warum sie
nicht mitgekommen sind.«
Ein dünnes Lächeln lag auf Marsh' Lippen. »Du hast es nicht
ausgesprochen, aber ich habe es gefühlt.« Er drückte Jim die
Hand. »Ich will jetzt ins Haus gehen. Ich möchte Ellen in
diesem Zustand nicht lange allein lassen.«
Jims Besuch bei den Lonsdales hatte eine Stunde gedauert.
Erst nach zehn oder zwanzig Minuten hatte Ellen zu sprechen
begonnen. »Wo ist Carol?« hatte sie gefragt.
»Sie ist daheim«, hatte Jim ihr geantwortet. »Kim ist krank.«
Ein paar Minuten später hatte Ellen die gleiche Frage
wiederholt. »Wo ist Carol?«
»Sie hat einen Schock erlitten«, hatte Marsh seinem Freund
erklärt.
Jim hatte gezögert, Marsh und Ellen wieder ihren trüben
Gedanken zu überlassen, zumal sein Freund ebenfalls unter
einem Schock zu stehen schien. »Es ist vielleicht doch besser,
wenn ich bei euch bleibe.«
»Nein«, hatte Marsh gesagt. »Ich weiß nicht, was
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