Das Kind der Rache
über den kleinen
Gottesacker. Nach kurzer Suche fand er den Grabstein, nach
dem er Ausschau gehalten hatte.
Alejandro de Melendez y Ruiz
1832-1926
Es war sein eigenes Grab. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß
er schon vor sechs Jahrzehnten gestorben war. Auf dem Stein
lagen Blumen. Alex wußte, wer das Grab geschmückt hatte.
Maria Torres, die auf diese Weise das Andenken ihres
Großvaters ehrte. Alex beugte sich nieder und nahm eine
Blume aus dem Strauß. Er ließ den betörenden Duft auf sich
einwirken. Mit der Blume in der Hand verließ er den Friedhof.
Er ging auf die Eiche zu und verharrte in der Düsternis, die
den alten Baum umgab.
Er hob den Blick. An einem der Äste hing sein Vater, mit
dem Hals in der Schlinge. Alex rannen die Tränen über das
Gesicht. Er legte die Blume auf die Erde und ging zum Auto.
Er betätigte den Anlasser und fuhr los. Die Schatten der
Vergangenheit blieben hinter ihm zurück. Alex wußte, daß er
die Eiche nie wiedersehen würde.
Lisa und Carol befanden sich in der Küche, als sie das
Geräusch eines parkenden Wagens hörten. Eine Autotür wurde
zugeschlagen. Carol trat ans Fenster und schob den Vorhang
zur Seite. Es war ein Wagen, den sie noch nie gesehen hatte. Es
war zu dunkel, um das Gesicht des Fahrers zu erkennen.
Beunruhigt kehrte Carol zum Küchentisch zurück. Ihre Hand
zitterte, als sie sich eine Tasse Kaffee eingoß.
»Wer war das, Mama?« fragte Lisa. Carol zwang sich zu
einem Lächeln, das Sicherheit ausstrahlen sollte.
»Zu sehen ist niemand. Ich nehme an, der Fahrer ist in das
Haus gegenüber gegangen.« Sie sagte das, obwohl sie das
untrügliche Gefühl hatte, daß jemand vor ihrer Haustür stand.
Sie hatte ihren Satz kaum beendet, als die Türglocke ging.
»Was sollen wir tun?« wisperte Lisa.
»Nichts«, sagte Carol. »Wir werden nicht öffnen. Wer
immer es ist, er wird wieder weggehen.«
Wieder ertönte die Glocke. Lisa erschauderte.
»Er wird weggehen«, wiederholte Carol. »Wenn wir nicht
aufmachen, wird er verschwinden.«
Es läutete zum drittenmal. Und dann geschah etwas, was
Carol nicht hatte vorhersehen können. Ihre kleine Tochter Kim
kam die Treppe heruntergepoltert. Die Mutter sah, wie sie auf
die Haustür zulief. »Kim!«
Es war zu spät. Das Kind hatte die Tür geöffnet. Alex trat
ein. Er trug ein Gewehr in der rechten Hand.
»Wie lange sollen wir hier noch sitzen?« fragte Jackson. Er
zündete sich eine Zigarette an. Für zwei oder drei Sekunden
erhellte die Flamme seines Feuerzeugs das Innere des Wagens,
der in einer Entfernung von fünfzehn Metern vom Haus der
Familie Lonsdale parkte.
»Bis er kommt«, grunzte Sergeant Finnerty. Er massierte
sich die Waden, aber der Krampf blieb. Finnerty war
übernächtigt und erschöpft, aber das wollte er nicht zugeben.
»Warum bist du so sicher, daß der Bursche überhaupt nach
Hause kommt?« fragte Jackson.
»Instinkt, würde ich sagen. Ganz davon abgesehen, daß es
kein anderes Haus gibt, wo er hingehen kann.«
Jackson warf seinem Kollegen einen Blick zu, der seine
ganze Skepsis zum Ausdruck bringen sollte. »Wenn ich er
wäre, wäre ich jetzt schon an der mexikanischen Grenze.«
»Du hast etwas Wichtiges vergessen«, erwiderte Finnerty.
»Der Vater sagt, der Junge hat keine Erinnerung an das, was er
tut. Auch wenn er die Morde wirklich begangen hat, wird er
zurückkommen.«
»Und was tun wir, wenn sein Gedächtnis besser funktioniert,
als wir alle glauben?« fragte Jackson.
»Das«, sagte Sergeant Finnerty grimmig, »würde bedeuten,
daß er für seine Taten voll verantwortlich ist. Wir hätten es in
diesem Fall mit einem ganz normalen Mörder zu tun. Mit
einem Killer, den wir unter allen Umständen an der
Durchführung des nächsten Verbrechens hindern müssen.
Notfalls müssen wir tun, was sein Vater uns geraten hat. Ihn
erschießen.«
Jackson drückte seine Zigarette aus. »Ich weiß nicht, ob ich
das übers Herz bringe. Es wäre der erste Mensch, den ich töte.«
»Hoffen wir, daß es nicht soweit kommt«, sagte Sergeant
Finnerty. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Weck
mich auf, wenn etwas Besonderes ist.«
»Kim!«
Es sollte wie ein Befehl klingen, aber die Angst in Carols
Stimme war deutlich herauszuhören. Das Kind drehte sich um
und warf seiner Mutter einen neugierigen Blick zu. »Komm zu
mir, Kim«, flehte Carol. Kim zögerte. Sie wandte sich zu Alex,
dessen Gestalt vom Schein der Deckenleuchte umflossen
wurde.
»Hast du dir weh getan,
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