Das Kind der Rache
wandte, warf sich Marsh nach vorn. Er
entriß dem Jungen das Gewehr. Alex kam ins Stolpern und
taumelte gegen den Kaminsims.
»Töte mich«, flüsterte er. »Wenn du deinen Sohn je geliebt
hast, töte mich.«
»Wer bist du?« fragte Marsh. »Bist du Alex?«
»Nein. Ich bin ein anderes Wesen. Ein Geschöpf, das
programmiert ist wie ein Computer. Alex hat versucht, die
Morde zu verhindern. Aber er hat es nicht geschafft. Töte
mich, Vater. Ich bitte dich darum.«
Marsh hob das Gewehr, zielte und drückte ab.
Der Schuß traf Alex mitten ins Herz.
Die Zeit stand still. Ellen starrte auf den leblosen Körper, auf
den Jungen, der nicht ihr Sohn war. Ihr Blick wanderte zu den
beiden Polizisten und dann zu ihrem Mann.
»Ich danke dir, Marsh«, sagte sie. Sie stand auf, ging zu ihm
und schloß ihn in die Arme.
Marsh ließ das Gewehr sinken. »Es tut mir leid«, sagte er mit
gebrochener Stimme. Er ließ die Waffe auf den Boden fallen.
»Ich mußte es tun.«
Jackson und Finnerty wechselten einen Blick stillen Einverständnisses. Es war Finnerty, der sprach.
»Wir haben beide gesehen, wie Sie von Ihrem Sohn angegriffen worden sind.«
»Nein«, begann Marsh, »er hatte nicht vor, mich...«
»Er hat Sie angegriffen. Der Schuß ging los, als Sie ihm das
Gewehr aus der Hand gewunden haben.« Marsh wollte etwas
sagen, aber Finnerty ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Bitte,
Dr. Lonsdale, mein Partner und ich haben gesehen, wie es
passiert ist.« Er wandte sich zu Sergeant Jackson. »Nicht wahr,
Tom?«
Tom Jackson zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. »Es
ist, wie Sergeant Finnerty sagt«, bestätigte er. »Es war
Notwehr, wir beide können es bezeugen. Und jetzt, Dr.
Lonsdale, sollten Sie Ihre Frau nach oben bringen.« Ellen und
Marsh verließen den Raum, ohne einen einzigen Blick auf
Alex' Leiche zu werfen.
Epilog
Maria Torres zog sich das Halstuch enger, um die Kühle des
Dezembertages abzuwehren. Sie verließ ihr Häuschen, schloß
sorgfältig ab und überquerte mit langsamen Schritten die
Straße, die zur ehemaligen Missionsstation führte. Wenig
später hatte sie den alten Friedhof erreicht.
Ihr Blick glitt über die blumengeschmückten Gräber. Keine
Frage, die Menschen in La Paloma bewahrten jenen, die vor
drei Monaten auf so grauenvolle Weise umgekommen waren,
ein ehrendes Angedenken. Valerie Benson lag hier begraben,
gleich neben Marty Lewis. Etwas weiter nördlich befanden
sich die Ruhestätten von Cynthia und Carolyn Evans. Täglich
wurden die Grabsteine mit frischen Blumen geschmückt. Alex
Lonsdale war in der äußersten Ecke des Friedhofs zur Ruhe
gebettet worden, so weit wie möglich von jenen entfernt, deren
Tod er herbeigeführt hatte. Auf seinem Grab lag eine weiße
Rose, die täglich erneuert wurde, eine Aufgabe, die der Florist
des Ortes übernommen hatte. Maria war an Alex' Gedenkstein
angekommen. Sie blieb stehen. Wie lange wohl die Eltern des
Jungen den Auftrag, den sie dem Blumengeschäft erteilt hatten,
noch aufrechterhalten würden? Die Lonsdales waren vor drei
Monaten in eine andere Stadt verzogen. Maria war sicher, daß
sie ihren Sohn sehr bald vergessen würden. Ellen würde ihrem
Mann neue Kinder gebären, und danach würde es keine Rosen
mehr für Alex geben.
Wenn der Tag kam, würde sie, Maria Torres, das Grab
schmücken. Wenn die Eltern längst keinen Gedanken mehr an
ihren Sohn verschwendeten, würde sie diejenige sein, die
täglich Blumen auf Alejandros Grab legte.
Sie ging weiter und betrat den ältesten Teil des Friedhofs,
wo ihre Eltern und Großeltern begraben lagen. Drei Monate
zuvor war auch Ramon, ihr geliebter Sohn, dort zur Ruhe
gebettet worden. Sie blieb stehen, um das Grabkreuz zu
betrachten. Wie immer, wenn sie Ramon besuchte, grübelte sie
über die Frage nach, welche Rolle er in den Tagen der Rache
gespielt hatte. Aber was Ramon getan hatte, würde wohl immer
ein Mysterium bleiben. Maria vermutete, daß die Heiligen ihn
erleuchtet hatten, so daß er zum Erfüllungsgehilfen des
Schicksals wurde. Sie würde das Andenken ihres Sohnes
immer in Ehren halten, so wie sie das Andenken von Alejandro
de Melendez y Ruiz in Ehren hielt. Sie sprach ein Gebet über
dem Grab, dann verließ sie den Friedhof. Es gab wichtige
Aufgaben, die auf sie warteten.
Sie ging den Hacienda Drive hinauf. Gut, daß mir der
anstrengende Weg zur Hazienda erspart bleibt, dachte sie. Seit
der Tragödie, die sich dort ereignet hatte, stand das Haus leer.
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