Das Kind der Rache
verblaßte, die
verschwommenen Bilder bekamen feste Umrisse.
Auf einmal erinnerte er sich an Dinge, die er irgendwann
schon einmal gesehen hatte. Er wußte jetzt, wo er war. Er
befand sich in einem Krankenhaus.
Und er erinnerte sich, daß auch sein Vater in einem solchen
Krankenhaus arbeitete. Sein Vater war Arzt. Er ließ den Blick
durch den Raum schweifen und erblickte ein Gesicht.
Sein Vater?
Er wußte es nicht. Seine Lippen begannen sich zu bewegen.
»Wer... sind... Sie?«
»Ich bin Dr. Torres«, sagte eine Stimme. »Dr. Raymond
Torres.« Schweigen folgte diesen Worten. Nach einer Weile
sprach die Stimme weiter. Eine Frage wurde gestellt. »Wer bist
du?«
Ein paar Sekunden lang lag er still. Dann gab er die Antwort.
Er sprach mit zitternder Stimme, aber doch so, daß der Arzt ihn
verstehen konnte. «Lonsdale. Alexander James Lonsdale.«
»Gut«, sagte der Mann, der Dr. Tones hieß. »Sehr gut. Und
jetzt sag mir bitte, wo du dich befindest.«
Es war schwer, das Wort über die Lippen zu bringen.
»Kran... ken... haus.«
»Richtig. Kannst du mir auch sagen, warum du im
Krankenhaus bist?«
Einmal mehr verfiel Alex in Schweigen. Er bemühte sich,
die Frage zu deuten, die ihm gestellt worden war.
»Hacienda Drive«, flüsterte er. »Auto.«
»Gut«, sagte Dr. Torres in sanftem Tonfall. »Du brauchst
jetzt nicht weiterzusprechen. Bleib ganz einfach so liegen. Du
brauchst dir über nichts Sorgen zu machen. Hast du mich
verstanden?«
»Ja.«
Das Gesicht des Arztes verschwamm vor seinen Augen, und
die Umrisse eines anderen Menschen wurden deutlich. Ein
Mensch, an den Alex sich nicht erinnern konnte. Er schloß die
Lider und sank in die Düsternis zurück.
Ellen und Marsh sprangen auf, als Dr. Torres wenige Minuten
nach dem Wortwechsel mit Alex in sein Büro zurückkehrte.
»Er ist aus der Bewußtlosigkeit erwacht«, erklärte er ihnen.
»Und er kann sprechen.«
»Hat er wirklich gesprochen?« fragte Ellen. »Oder waren es
nur unverständliche Laute?«
Dr. Torres nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Er hat
mich gefragt, wer ich bin. Und dann hat er mir seinen Namen
gesagt. Er weiß, daß er einen Unfall gehabt hat.«
Marsh konnte sein Herz klopfen hören. Die Graphik, die der
Chirurg ihm zwei Tage zuvor gezeigt hatte, erstand in seinem
Gedächtnis. Die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen
Heilung war gleich null. Inzwischen stand aber fest, daß Alex
hören, sprechen und denken konnte.
»Sie müssen sich allerdings darauf gefaßt machen, daß Ihr
Sohn Sie nicht wiedererkennt.«
»Warum sollte er uns nicht wiedererkennen?« brach es aus
Ellen hervor. Dann: »Oh, mein Gott. Ich verstehe, was Sie
sagen wollen. Er ist blind.«
»Er ist keineswegs blind«, belehrte sie Dr. Torres. Er fixierte
sie mit seinen ruhigen, eindrucksvollen Augen, und Ellen
spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken kroch. Aus
diesem Mann sprach eine Stärke, die zwanzig Jähre zuvor nicht
dagewesen war. Seine Angriffslust, die ihr damals Angst
gemacht hatte, hatte sich in Selbstbewußtsein verwandelt. Aus
irgendeinem Grunde war Ellen sicher, daß Raymond Torres die
Wahrheit sprach. Jedes Wort, was über diese Lippen kam,
beruhte auf Wahrheit. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit
gab, Alex zu heilen, dann lag diese Möglichkeit in den Händen
des genialen Chirurgen, der ihr gegenübersaß. In seiner Gegenwart verflog die Angst, die Ellen seit zwei Tagen in ihren
Klauen hielt. Sie lauschte ihm mit einer Konzentration, die sie
noch bei keinem anderen Menschen aufgebracht hatte.
»Was das Erkennen von Personen angeht«, fuhr Dr. Torres
fort, »so läßt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht überblicken,
in welchem Umfang die Bereiche des Gehirns, wo die
Erinnerungen gespeichert sind, erhalten geblieben sind. Es
könnte sein, daß Alex sich an Ihre Namen erinnert und
trotzdem nicht mehr weiß, wie Sie eigentlich aussehen.
Möglich ist auch der umgekehrte Fall, daß er sich an Ihr
Aussehen, nicht aber an Ihre Namen erinnert. Wie auch immer
er bei der ersten Begegnung reagiert, Sie müssen darauf achten,
daß Sie sich Ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen.«
»Ich bin so glücklich, daß er überhaupt noch lebt und daß er
das Bewußtsein wiedererlangt hat«, brachte Ellen hervor. »Ich
möchte mich von ganzem Herzen bei Ihnen bedanken,
Raymond. Wie kann ich wiedergutmachen, was Sie für meinen
Sohn getan haben?«
»Indem Sie Alex jetzt so akzeptieren, wie er ist.«
»Aber Sie haben doch eben
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