Das Kind der Rache
Alex die Operation gut überstanden hat
und daß er kein Atemgerät mehr braucht, das ist alles.« Er
führte Ellen zur Tür. »Gehen wir jetzt zu Alex. Nachher sollten
wir unverzüglich heimfahren.«
Schweigend gingen sie durch den Hur, der am Operationssaal vorbeiführte. Schwester Susan begleitete sie bis zur
Trennscheibe. Ellen und Marsh Lonsdale traten an das
längliche Fenster. Sie erblickten das Innere eines großen
Krankenzimmers, in dessen Mitte ein Bett stand. Auf dem Bett
lag Alex. Eine Reihe von Kabeln und Schläuchen führte von
ihm zu den Monitoren, die an der Längsseite des Raumes
standen.
Ein Blick auf eine der Skalen überzeugte Marsh davon, daß
der Puls seines Sohnes stark und regelmäßig war.
»Er wird die Sache durchstehen«, sagte er leise. Ellen stand
an ihn geschmiegt und drückte seine Hand.
»Du hast recht«, antwortete sie. »Ich kann es fühlen, daß
unser Sohn überleben wird.« Sie verstärkte den Druck ihrer
Finger. »Er ist über den Berg, Marsh. Raymond hat uns
unseren Sohn zurückgegeben.« Und dann: »Ich fürchte nur, er
wird ein anderer Junge sein als der, den wir kennen.«
»So ist es«, bestätigte Marsh. »Aber bei allen Veränderungen, die sich vielleicht ergeben haben, bleibt er doch unser
Sohn Alex.«
Das Piepen eines Anzeigegerätes war zu hören. Die
diensthabende Schwester stand auf, warf einen Blick auf die
Monitoren und notierte die Uhrzeit.
Es war 9.45 Uhr vormittags.
Sie trat an das Bett und warf einen Blick auf Alex, der mit
geschlossenen Augen dalag.
Das Piepen wiederholte sich, und diesmal wußte die
Schwester sofort, auf welche Weise das Geräusch ausgelöst
worden war. Sie ging zum Telefon und drückte auf zwei
Tasten.
»Hier Dr. Torres. Was gibt's?«
»Augenbewegung bei geschlossenen Lidern, Herr Doktor.
Vielleicht träumt er, es ist aber auch möglich, daß...«
»Daß er jetzt aufwacht«, vollendete Dr. Torres ihren Satz.
»Ich komme sofort.« Es klickte im Hörer, der Chirurg hatte
aufgelegt. Die Schwester ging zum Krankenbett zurück.
Wieder das Piepen. Alex' Augenlider begannen zu flattern.
Sein Bewußtsein war wie ein Nebel, in dem die Umrisse seines
Ichs sich abzuzeichnen begannen.
Geräusche und Bilder umschwebten ihn wie Wolkenfetzen.
Vergeblich versuchte er, die Eindrücke einander zuzuordnen.
Er hatte das Gefühl, einen Film zu sehen. Einen Film, der
viel zu schnell ablief.
Und Dunkelheit. Dunkelheit umfing ihn, ganz allmählich
kristallisierte sich sein Ego heraus. Jenseits der Düsternis
schien es noch etwas zu geben. Die Welt, so ahnte er, bestand
nicht nur aus Geräuschen und Bildern.
Ein Traum.
Er träumte.
Aber wovon? Er versuchte, sich auf diese Frage zu konzentrieren. Wo war er? Gab es ihn wirklich, oder war er ein
Traum, den ein anderer Mensch träumte?
Die Dunkelheit lichtete sich, die Geräusche und Bilder
wurden schwächer, verloren an Bedeutung.
Kein Traum. Wirklichkeit. Er existierte.
Er.
Und was bedeutete das, ›er‹?
›Er‹ war ein Wort. Eigentlich, dachte er, müßte ich wissen,
was das Wort bedeutet. Zu dem Begriff ›er‹ gehört ein Name.
Aber welcher Name?
Das Wort ›er‹ blieb ohne Bedeutung.
Aber dann verwandelte sich das ›er‹ in ›ich‹.
›Ich‹.
Ich bin ich. Er ist identisch mit mir.
Wer?
Alexander James Lonsdale.
Jetzt erinnerte er sich der Bedeutung dieser Worte.
Sein Gedächtnis kehrte zurück.
Aber es waren nur Bruchstücke der Erinnerung, die ihm
zugänglich wurden. Dinge, die nicht zusammengehörten. Er
war unterwegs zu einer Veranstaltung. Was für eine
Veranstaltung? Eine Abschlußfeier, Tanz. Ob ich mir das auch
bildlich vorstellen kann?
Wenn ich mich an etwas erinnern will, muß ich es mir
bildlich vorstellen.
Nichts.
Ich fahre.
Auto. Er befand sich am .Steuer eines Autos. Wohin fahre
ich?
Nichts. Kein Bild. Kein Straßenname.
Ich muß versuchen, es mir bildlich vorzustellen.
Immer noch kein Bild. Ein paar Sekunden lang hatte er das
bedrückende Gefühl, daß er seinen Namen für alle Zeiten
vergessen hatte. Sein Kopf war leer. Dunkelheit erfüllte ihn.
Aber dann kehrten die Namen in sein Gedächtnis zurück.
Marshall Lonsdale.
Ellen Smith Lonsdale.
Seine Eltern. Im Mittelpunkt der Düsternis war der Widerschein einer Lichtquelle zu erkennen.
Er öffnete die Augen und schloß sie wieder, so hell war das
Licht.
»Er ist aufgewacht.« Diese Worte hatten eine ganz bestimmte Bedeutung, und er verstand die Bedeutung.
Wieder öffnete er die Augen. Die Lichtquelle
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