Das Kind der Rache
zur Seite, um seine beiden Besucher
vorbeizulassen.
»Aber er ist mein Sohn«, protestierte Marsh. »Wir haben
doch ein Recht darauf, mit ihm...«
Ellen fiel ihm ins Wort. »Wir werden tun, was Raymond
sagt.«
Marsh maß seine Frau mit einem ärgerlichen Blick. Aber
dann gewann er seine Fassung zurück. Er wandte sich zu dem
Chirurgen. »Es tut mir leid, ich habe mich hinreißen lassen.«
Ein schwer zu deutendes Lächeln zuckte in seinen
Mundwinkeln. »Künftig werde ich mir strikt vor Augen halten,
daß Sie der behandelnde Arzt sind, nicht ich. Ich habe ja selbst
Erfahrungen mit den Angehörigen von Patienten und weiß, daß
es für den Arzt nicht leicht ist, die therapeutischen
Erfordernisse gegenüber allen Störungen von außen
durchzusetzen.«
Es war eine Entschuldigung, die an der Herablassung, mit
der Dr. Torres die Eltern seines Patienten behandelte, wenig zu
ändern vermochte. »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis«,
sagte er förmlich. »Ich weiß, daß ich kein sehr geduldiger
Mensch bin, aber dafür habe ich eine feste Vorstellung von
dem, was für meine Patienten am besten ist. Ich darf mich jetzt
von Ihnen verabschieden, ich muß zu Ihrem Sohn.«
Sie hatten die Empfangsräume der Klinik durchquert, als
Marsh spürte, wie die Erinnerung an die erlittene Demütigung
zurückkehrte. »Wenn man es genau betrachtet, hat er uns
rausgeworfen.«
»Er ist offensichtlich der Ansicht, daß wir für den Rest des
Tages hier überflüssig sind«, antwortete Ellen.
»Aber ich bin der Vater des Jungen, verdammt noch mal.«
Ellen war am Rande der Erschöpfung. Während sie eine
Sitzgruppe umrundeten, betrachtete sie ihren Mann aus den
Augenwinkeln. Merkwürdig. Marsh schien sich gar nicht
darüber zu freuen, was dieser Chirurg für Alex erreicht hatte.
»Er ist der behandelnde Arzt«, sagte sie. »Ohne ihn wäre unser
Sohn womöglich gar nicht mehr am Leben. Wir sind Raymond
Dank schuldig, Marsh, das solltest du nie vergessen.«
»Warum nennst du ihn Raymond?« fragte Marsh. »Waren
deine Beziehungen zu ihm in der Schule so eng, daß du mit
solcher Vertraulichkeit von ihm sprichst?«
Sie sah ihn überrascht an. »Was hast du dagegen, daß ich ihn
so nenne, wie ich ihn damals in der Schule genannt habe?«
»Ich für meine Person lege auf diese Art von Vertraulichkeit
gegenüber einem Mann wie Dr. Torres keinen Wert«, konterte
er.
In Ellen weckte die Entgegnung die widersprüchlichsten
Gefühle. Was war eigentlich los mit ihrem Mann?
»Marsh, bist du etwa eifersüchtig?«
»Überhaupt nicht«, sagte er. Die Antwort war verräterisch
schnell gekommen. »Ich mag ihn nicht, das ist alles.«
»Es tut mir leid«, sagte Ellen, »aber Raymond hat unserem
Sohn das Leben gerettet. Auch wenn du ihn nicht magst, so
bleibst du ihm doch zu Dank verpflichtet.«
Er spürte, daß sie recht hatte. »Ich bin ihm dankbar«, sagte er
ruhig. »Und was du vorhin in seinem Büro gesagt hast, das
stimmt. Er hat in der Tat ein Wunder vollbracht. Er hat eine
Operation ausgeführt, zu der ich bei all meinen Kenntnissen
nicht in der Lage gewesen wäre. Vielleicht bin ich wirklich ein
bißchen eifersüchtig auf ihn.« Er legte ihr den Arm um die
Schultern. »Versprichst du mir, daß du dich nicht in ihn
verliebst?«
Ellen war nicht sicher, ob die Bemerkung im Ernst oder im
Scherz gesagt war. Nach kurzer Überlegung zauberte sie ein
Lächeln auf ihre Lippen und küßte ihren Mann. »Versprochen,
ich werde mich in keinen anderen Mann der Welt verlieben.
Du bleibst die Nummer eins. Und nun laß uns zu unseren
Freunden gehen und ihnen die gute Neuigkeit mitteilen.«
Sie fanden Carol Cochran und ihre Tochter Lisa in den
Warteräumen. »Ist es wirklich wahr?« fragte Lisa atemlos. »Ist
Alex aus der Bewußtlosigkeit erwacht?«
Ellen zog Lisa in ihre Arme und drückte sie. »Es ist wahr«,
sagte sie. »Er ist aufgewacht, und er kann sprechen. Er hat
mich sogar wiedererkannt.«
»Gott sei Dank«, sagte Carol. »Die Krankenschwester hat
uns die gute Botschaft schon mitgeteilt, aber ich hatte Zweifel,
daß es wirklich so ist.«
»Übrigens«, sagte Marsh, »hat Dr. Torres uns gerade aus
Alex' Zimmer rausgeworfen. Frag mich nicht, warum, aber er
will, daß der Junge bis morgen durchschläft.«
Carol konnte es nicht glauben. »Du willst uns auf den Arm
nehmen, oder?«
»Es ist die traurige Wahrheit«, sagte Marsh. »Aber ich trag's
mit Fassung. Ich bin in diesem Falle nicht der behandelnde
Arzt, das ist
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