Das Kind der Rache
eine Tatsache.« Er ergriff Ellen am Arm. »Und
nun laß uns nach Hause fahren. Ich habe letzte Nacht kaum
geschlafen, und ich denke, du bist genauso müde wie ich.«
Sie gingen durch den Vorgarten des Instituts. Es war ein
wunderschöner Maitag, die Sonne stand schon hoch am
Himmel. Ellen ließ den Anblick auf sich wirken, als sei dies
das erste Mal in ihrem Leben, daß sie eine Frühlingsszene
betrachtete. »Der Rasen, die Blumen... Ist das nicht
wunderbar?«
Carol und Lisa waren Dr. Lonsdale und seiner Frau nach
draußen gefolgt. Carol maß ihre Freundin mit einem
verständnisvollen Lächeln. »Ich glaube, heute würdest du auch
einen häßlichen Hinterhof wunderbar finden.«
»So ist es«, sagte Ellen. »Du glaubst gar nicht, wie glücklich
ich bin. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Ich hab's
gewußt, daß Dr. Torres meinem Sohn helfen kann!« Sie
drückte Lisa, die neben ihrer Mutter ging, einen Kuß auf die
Wange. »Alex wird wieder gesund werden«, schluchzte sie.
»Alles wird wieder gut.«
»Alex?« Dr. Torres wartete einige Sekunden, bevor er weitersprach. »Alex, kannst du mich hören?«
Alex schlug die Augen auf. Schweigend betrachtete er den
Mann im weißen Kittel.
»Alex, ich möchte dich bitten, mir eine Reihe von Fragen zu
beantworten. Wirst du das tun?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich will's versuchen.«
»Gut. Ich bin schon zufrieden, wenn du es nur versuchst.
Und nun paß gut auf, Alex. Weißt du, warum du deinen Vater
nicht sofort wiedererkannt hast?«
Die Antwort des Jungen kam nach langem Schweigen.
»Nachdem er mir gesagt hatte, daß er mein Vater ist, war ich
sicher, daß es so ist.«
»Aber im ersten Augenblick war er ein unbekannter Mensch
für dich, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Im Gegensatz dazu hast du deine Mutter sofort erkannt.
Richtig?«
»Ja.«
»Weil du dich an ihr Gesicht erinnert hast?«
»Nein.«
Dr. Torres runzelte die Stirn. »Wie konntest du sie dann
wiedererkennen?«
Zögernd gab Alex seine Antwort.
»Wenn der Mann, der mich besucht hatte, mein Vater war,
dann mußte sie meine Mutter sein. Nachdem ich diesen Schluß
gezogen hatte, kam sie mir bekannt vor.«
»Wenn man es genau nimmt, dann hast du also weder deinen
Vater noch deine Mutter wiedererkannt. Habe ich recht?«
»Sie haben recht.«
»Das war's schon. Ich werde dir jetzt ein Sedativ geben.
Wenn du wieder aufwachst, komme ich zu dir. Die Schwester
wird mich rufen.« Er gab ihm die Spritze, tupfte die
Einstichstelle mit einem Wattebausch ab und fragte ihn, ob er
den Einstich gespürt hätte.
»Nein«, kam die Antwort.
»Du hast überhaupt keinen Schmerz gespürt?«
»Nein.«
»Was hast du denn gespürt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Alex.
»Es ist gut«, sagte Dr. Torres. »Du wirst jetzt schlafen.«
Alex schloß die Augen. Eine Weile lang blieb Dr. Torres vor
seinem Bett stehen, dann ging er zu den Monitoren und
betrachtete die Skalen. Bevor er den Raum verließ, warf er
einen letzten Blick auf seinen Patienten.
Alex' Augenlider zuckten. Zu gern hätte Dr. Torres gewußt,
was sich in dieser Sekunde im Kopf des Jungen abspielte.
Aber es gab Mysterien, die nicht einmal er, der sonst alle
Geheimnisse kannte, entschlüsseln konnte.
ZWEITER TEIL
Achtes Kapitel
Dr. Torres war die Ungeduld, mit der Alex die Uhr auf seinem
Schreibtisch betrachtete, nicht verborgen geblieben. Er machte
eine Eintragung in das Krankenblatt, dann hob er den Blick.
»Noch zwei Stunden bis zu deiner Entlassung«, sagte er.
»Bist du sehr aufgeregt?«
»Nur neugierig, wie's draußen aussieht«, sagte der Junge-
Der Arzt lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wenn ich
mich in deine Situation versetze, ich glaube, ich wäre aufgeregt. Schließlich waren es drei lange Monate, die du in
meinem Institut verbracht hast. Freust du dich nicht, daß du
endlich wieder nach Hause kannst?«
»Nach Hause?« sagte Alex. Sein Blick war ausdruckslos,
ohne Glanz. »Ich komme ja gar nicht wieder in das Haus
zurück, wo ich früher gewohnt habe. Meine Eltern sind
umgezogen.«
»Würdest du lieber in dem Haus leben, wo ihr früher
gewohnt habt?«
Die Antwort kam zögernd. »Es ist mir egal, wo ich künftig
wohne. Ich kann mich an das frühere Haus sowieso nicht mehr
erinnern.«
»Verbinden dich denn mit dem Haus, wo du in Zukunft
leben wirst, gar keine Gefühle?«
»Nein.«
Und das, so ging es Dr. Torres durch den Kopf, war das
eigentliche Problem. Alex zeigte keine Gefühle, keine
Emotionen.
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