Das Kind der Rache
sondern auch seelisch verletzen kann, so wie du
vorhin Lisa verletzt hast. Das Mädchen mag dich sehr gern. Du
aber benimmst dich zu ihr, als wäre sie dir egal.«
Alex gab keine Antwort. Es war ihm nicht anzusehen, ob er
über das Gehörte nachdachte oder nicht. Einige Minuten
verstrichen, ehe Alex sich erneut an seinen Vater wandte.
»Es stimmt. Was anderen Menschen so viel bedeutet, ist mir
gleichgültig. Das ist ja auch der Grund, warum ich in dem
Institut in Palo Alto behandelt werde. Dr. Torres hat gesagt,
daß ich wahrscheinlich nie wieder ganz gesund werde. Ich
werde nie wieder die gleichen Gefühle spüren wie andere
Menschen. Oder hat Dr. Torres mich angelogen?«
Plötzlich hatte Marsh den Wunsch, seinen Sohn in die Arme
zu nehmen und ihn wie ein kleines Kind an sein Herz zu
drücken. Aber er wußte, das würde nichts nützen. Einem
Menschen, der keine Gefühle hat, konnte er mit einer solchen
Geste weder Sicherheit noch Liebe einflößen. Alex litt nicht
unter Unsicherheit, und er litt nicht unter Lieblosigkeit.
Er hatte ganz einfach keine Gefühle. Marsh wußte, daß er
daran nichts ändern konnte.
»Du hast deinen Zustand korrekt beschrieben«, sagte er
ruhig. »Das Problem ist in der Tat, daß du die Emotionen der
anderen Menschen nicht nachempfinden kannst. Ich weiß
nicht, wie wir das ändern könnten, obwohl ich dir so gerne
helfen möchte.« Er berührte seinen Sohn an der Schulter. »Ich
möchte so gerne, daß alles wieder so wird, wie es vor dem
Unfall war.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken, Vater«, erwiderte
Alex. »Ich habe keine Schmerzen, und ich kann mich nicht
daran erinnern, wie ich früher einmal war.«
Marsh konnte spüren, wie die aufsteigenden Tränen seinen
Hals zuschnürten. »Lassen wir das, mein Sohn«, brachte er
hervor. »Ich weiß, daß du dich bemühst, alles richtig zu
machen, und ich weiß auch, wie schwer dir das fällt. Ich werde
dir helfen, über deine Schwierigkeiten hinwegzukommen, das
verspreche ich dir.« Er wandte sich ab, weil ihm die Tränen
über die Wangen liefern. Dann verließ er den Raum.
Er ging ins Schlafzimmer und weinte. Als er seine Fassung
wiedergewonnen hatte, kehrte er zu seiner Frau und den Gästen
ins Wohnzimmer zurück.
»Er hat sich wegen der Sache bei mir entschuldigt«, sagte er
zu Lisa gewandt. »Es tut ihm leid, was er gesagt hat. Er hat es
nicht so gemeint.« Wenige Minuten später verließ Lisa mit
ihren Eltern das Haus, und Marsh fragte sich, ob irgend jemand
seinen Worten Glauben geschenkt hatte.
Einige Sekunden lang wußte er nicht, wo er sich befand. Dann
erinnerte er sich an den Traum, von dem er aufgewacht war.
Er hatte sich in einem Haus befunden, das dem seiner Eltern
ähnelte. Weißgekalkte Wände, eine geflieste Küche-. Er hatte
mit einer Frau gesprochen. Obwohl er ihr Gesicht nicht
erkennen konnte, wußte er, daß es sich um Martha Lewis
handelte.
Als draußen ein Geräusch zu hören war, war Mrs. Lewis zur
Tür gegangen. Sie hatte mit jemandem gesprochen. Dann hatte
sie die Tür geöffnet und einen Besucher eingelassen.
Zunächst hatte Alex gedacht, daß es sich bei dem Besucher
um ihn selbst handelte, aber dann war ihm klargeworden, daß
der Junge ganz anders aussah als er. Seine Haut war dunkler,
die Augen waren fast so schwarz wie sein Haar. Der Junge war
wütend, auch wenn er diese Empfindung zu verbergen
versuchte.
Auch Mrs. Lewis schien zu glauben, daß es sich bei dem
Besucher um ihn, um Alex, handelte. Nachdem der andere
Junge eingetreten war, sprach sie nur noch mit ihm. Sie nannte
ihn Alex.
Sie bot dem Besucher eine Coke an, und der Junge trank aus
der angebotenen Flasche. Dann stand er mit einer brüsken
Bewegung auf.
Er ging auf Mrs. Lewis zu und legte ihr die Hände an die
Gurgel.
Alex verharrte in seinem Versteck, den Blick auf die Frau
und den Jungen gerichtet.
Er konnte den Schmerz spüren, als der dunkelhäutige Junge
seine zehn Finger wie einen Schraubstock um den Hals der
Frau schloß.
Und er konnte ihre Seelenangst spüren, als die Frau zu
begreifen begann, daß sie jetzt sterben würde.
Hilflos sah er zu, wie der Besucher Mrs. Lewis die Gurgel
zudrückte.
Das bin ich. Der Junge, der die Frau tötet, bin ich.
Und jetzt war er aufgewacht. Die furchtbare Szene, die er
beobachtet hatte, war noch frisch in seinem Gedächtnis.
Gefühle. Emotionen.
Er empfand Mitleid für Mrs. Lewis. Er empfand Zorn auf
den Jungen, und er empfand Angst vor dem, was nach
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