Das Kind der Rache
dem
Mord folgen würde.
Als Mrs. Lewis gestorben war, wachte Alex auf. Die
Emotionen waren wie Wolken, die der Wind davonträgt. Nur
die Erinnerung war noch da. Die Erinnerung, der Mord und die
Worte, die der Junge gesprochen hatte, als er die Frau tötete.
Alex stand auf und ging nach unten. In einem Wörterbuch
schlug er die Worte nach, die der Junge verwendet hatte.
Venganza... Rache.
Ladrones... Diebe.
Asesinos... Mörder.
Rache wofür?
Wer waren die Diebe? Wer waren die Mörder?
Das alles machte keinen Sinn. Obwohl Alex Marty Lewis im
Traum erkannt hatte, war er sicher, daß er ihr noch nie
begegnet war.
Er sprach kein Spanisch.
Und deshalb konnte der Junge, der die Frau im Traum
ermordet hatte, nicht identisch mit Alex Lonsdale sein.
Es war nur ein Traum.
Er legte das Wörterbuch ins Regal zurück und ging wieder in
sein Zimmer.
Als er am Morgen darauf den La Paloma Herald las,
entdeckte er auf der Titelseite das Foto von Marty Lewis.
Es war die Frau, die ihm im Traum begegnet war.
Fünfzehntes Kapitel
An dem Tag, als Marty Lewis beerdigt wurde, war Ellen
Lonsdale in aller Frühe aufgewacht. Sie blieb noch eine Weile
in ihrem Bett liegen und sah zum Fenster hinaus. Draußen
wölbte sich der wolkenlose kalifornische Himmel. Ellen fand,
es war nicht das richtige Wetter für eine
Beerdigung. Zu einem solchen Ereignis hätte es besser gepaßt, daß er Küstennebel die Hügel von La Paloma hinaufkroch.
Das Kissen neben ihr raschelte, Marsh war aufgewacht. Er
blinzelte sie aus schläfrigen Augen an.
»Du brauchst noch nicht aufzustehen«, sagte Ellen. »Es ist
noch sehr früh. Ich konnte nicht mehr schlafen.«
Er stützte sich auf und versuchte sie zu streicheln. Ellen
entzog sich ihm. Sie schlug die Bettdecke zurück und stand
auf.
»Vielleicht wäre es doch besser, wenn du mit mir über die
Sache sprichst«, sagte er. Natürlich wußte er, daß sie auf diese
Aufforderung nicht eingehen würde. Wenn sie sich überhaupt
jemandem anvertraute, dann Dr. Torres. Marsh fühlte sich von
Tag zu Tag mehr von seiner Frau und seinem Sohn
abgeschnitten.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieviel Leid ich
noch ertragen kann«, sagte sie. Dann zwang sie sich zu einem
Lächeln. »Irgendwie werde ich es durchstehen.«
»Es wäre möglich, daß wir es genau falsch machen«, sagte
Marsh. »Wir haben uns in ein Problem verrannt und stecken in
der Sackgasse. Warum machen wir nicht einen kleinen Urlaub
und versuchen, wieder zueinanderzufinden.«
Ellen war dabei, sich anzuziehen. Sie hielt mitten in der
Bewegung inne und maß ihren Mann mit einem ungläubigen
Blick. »Wegfahren? Verreisen? Wie stellst du dir das vor? Was
wird aus Alex? Und was wird aus Kate Lewis? Wer kümmert
sich um die beiden?«
Marsh stand auf. »Kate wird bisher von Valerie Benson
betreut, sie könnte sich doch auch weiterhin um das Mädchen
kümmern. Verdammt noch mal, dann hat sie wenigstens etwas
anderes zu tun, als sich darüber zu beklagen, daß ihre
Scheidung ein großer Irrtum war.«
»Du bist ungerecht.«
»Ich sage nur, was jeder weiß«, widersprach er ihr.
»Und was Alex angeht, er ist jetzt soweit, daß er selbst auf
sich aufpassen kann. Das Problem, um das es geht, ist nicht
unser Sohn. Das Problem ist unsere Ehe.« Marsh wunderte
sich, wie leicht ihm die Worte von den Lippen gingen.
Eigentlich hätte er seine Gefühle vor seiner Frau verbergen
sollen. Aber das konnte er nicht. »Ist dir eigentlich
aufgefallen«, fuhr er fort, »daß du nicht mehr mit mir sprichst?
Seit drei Tagen hast du kaum ein Wort zu mir gesagt, und
vorher war es nicht viel besser, da haben wir uns nur darüber
unterhalten, was dieser Raymond Torres von unserer
Lebensführung hält. Er hat sich nicht nur in Alex' Leben
eingemischt, sondern auch in unsere Ehe.«
»Unsere Ehe und Alex sind untrennbar miteinander
verbunden«, sagte Ellen. »Alex bedeutet uns beiden sehr viel,
und Raymond weiß, was für den Jungen am besten ist.«
»Raymond Torres ist Gehirnchirurg, ein verdammt guter
sogar. Aber er ist kein Psychiater, und er ist auch kein
Beichtvater. Vor allem ist er nicht der liebe Gott, auch wenn er
sich so aufspielt.«
»Immerhin hat er Alex das Leben gerettet.«
»Bist du sicher?« Ein trauriges Lächeln schwebte um seine
Lippen. »Manchmal frage ich mich, ob er Alex für uns gerettet
oder ob er uns den Jungen gestohlen hat. Siehst du denn gar
nicht, was los ist, Ellen? Alex gehört nicht mehr uns. Er ist
nicht mehr
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