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Das Kind der Rache

Das Kind der Rache

Titel: Das Kind der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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unser Sohn, und du bist nicht mehr meine Frau. Ihr
gehört jetzt beide Raymond Torres, und das ist wahrscheinlich
das, was dieser Mann von Anfang an wollte.«
Ellen ließ sich auf das Bett sinken und drückte sich die
Handflächen auf die Ohren. »Du quälst mich mit jedem Wort,
was du sagst. Ich habe Alex gegenüber eine Verpflichtung, die
ich unter keinen Umständen aufgeben kann.«
Sie war den Tränen nahe. Marsh fühlte, wie seine Verbitterung abflaute. Er kniete vor dem Bett nieder und ergriff
Ellens Hände. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagte er
ruhig. »Ich weiß nur, daß ich dich und Alex liebe. Ich möchte
von Herzen, daß wir wieder eine richtige Familie werden.«
Ellen ließ seine Worte verklingen. »Ich glaube dir«, sagte sie
nach einer Weile. »Aber ich habe Angst vor der Zukunft.«
»Deine Angst ist unbegründet«, antwortete Marsh. »Es ist
nicht so, daß wir einen Schicksalsschlag nach dem anderen zu
erwarten haben. Zwischen Alex' Unfall und Marty Lewis
Ermordung besteht keinerlei Zusammenhang. Der Tat dringend
verdächtig ist Alan. Daß er behauptet, er könne sich an nichts
erinnern, überzeugt mich nicht. Ich finde, er sollte wegen
Mordes angeklagt und verurteilt werden.«
Ellen antwortete ihm mit einem dumpfen Nicken. »Auch
wenn er verurteilt wird, es steckt mehr dahinter. Ich habe das
unheimliche Gefühl, als ob ein Fluch über uns hängt.«
»Das ist das Dümmste, was ich in den letzten Monaten
gehört habe«, sagte Marsh. »Es gibt keinen Fluch, Ellen. Was
es gibt, sind die Gefahren des Lebens, denen wir alle
unterworfen sind. So einfach ist das.«
Es ist überhaupt nicht einfach, dachte Ellen. Sie hatte sich
angezogen und ging ins Erdgeschoß des Hauses hinab, um das
Frühstück zuzubereiten. Was war das, Leben? Wenn alles
richtig lief, zogen die Eltern ihre Kinder auf. Man traf sich mit
Freunden. Man hatte Spaß miteinander. Man lebte. So war es
in einer normalen Familie. Aber Alex war nicht normal. Und
daß Marty ermordet wurde, war auch nicht normal. Daß sie
sich jeden Morgen fragte, ob sie den Tag, der ihr bevorstand,
bewältigen konnte, war nicht normal.
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. In fünf Minuten
würde Marsh herunterkommen. Wenige Minuten später würde
Alex am Frühstückstisch erscheinen. Immerhin, es gab noch
ein Gerüst von Regeln. Sie, Ellen, würde sich an diese Regeln
halten, solange es ging. In Gedanken stellte sie sich eine Liste
von Verrichtungen und Beschäftigungen zusammen, die ihr
helfen sollten, das Leben zur Routine zu machen. Aber als
Marsh und Alex zum Frühstück kamen, hatte sie alles
vergessen. Sie servierte den beiden Kaffee, und dann gab sie
Alex einen Kuß auf die Wange.
Die liebevolle Geste blieb ohne Echo, Ellen war enttäuscht.
Sie goß Marsh und ihrem Sohn Orangensaft ein. Dann
bemerkte sie, daß Alex sich für die Schule angezogen hatte,
nicht für Martys Begräbnis.
»Du mußt dich umziehen«, sagte sie. »Du kannst nicht in
Jeans zu dem Begräbnis gehen.«
»Ich habe auch nicht vor hinzugehen«, sagte Alex und trank
seinen Orangensaft aus.
Marsh ließ die Zeitung sinken. »Natürlich gehst du zum
Begräbnis«, sagte er.
»Du mußt hingehen«, fügte Ellen hinzu. »Marty war eine
meiner besten Freundinnen, und du bist mit ihrer Tochter Kate
befreundet.«
»Aber das ist doch Unsinn. Ich hatte mit Kates Mutter
überhaupt keinen Kontakt. Was habe ich also auf ihrem
Begräbnis verloren? Sie bedeutet mir nichts.«
Ellen war schockiert. Sie wollte ihren Sohn rügen, als ihr
einfiel, was Raymond Torres ihr eingeprägt hatte. Nie die
Geduld verlieren! Alex war ein Mensch, der keine Gefühle
kannte. Folglich durfte man ihm keinen Vorwurf machen,
wenn seine Handlungen nicht von Emotionen, sondern
ausschließlich von der Zweckmäßigkeit bestimmt wurden. Sie
war verzweifelt. Was konnte sie sagen, um zum Herzen ihres
Sohnes vorzudringen?
Es gab so wenig, was sie noch mit ihm verband.
Alle Beziehungen beruhten auf Gefühlen, auf Liebe, Wut,
Mitleid. Bis der Unfall geschah, hatte Ellen die Existenz
solcher Gefühle für selbstverständlich gehalten.
Heute wußte sie, daß sie sich geirrt hatte. Alex kannte keine
Gefühle. Und das war der Grund, warum sich seine
Beziehungen zu anderen Menschen nach und nach auflösten.
Was konnte sie, die Mutter, tun, um die unheilvolle
Entwicklung aufzuhalten? Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch,
als sie Marsh' zornige Stimme hörte. Seine Worte waren

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