Das Kind der Rache
Marsh zu
Wort. Er stand auf, ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den
Scheitel. »Du mußt nicht traurig sein, Lisa. Es ist nicht deine
Schuld. Wir alle wissen, wie es um Alex nach dem Unfall steht
und wie frustrierend der Umgang mit ihm ist. Und jetzt sag uns
bitte, worüber ihr gestritten habt.«
Lisa nahm auf dem Sofa Platz und tupfte sich mit dem
Taschentuch, das ihr der Vater gegeben hatte, die Tränen aus
den Augen. »Zuerst haben wir uns die Platten angehört, und
dann habe ich Alex gesagt, ich möchte mich gern mit ihm über
Mrs. Lewis unterhalten, aber das wollte er nicht. Ich meine, er
hat mir auf meine Fragen geantwortet, aber er hat auch viel
unverständliches Zeug geredet. Irgendwie habe ich den
Eindruck, daß ihm der Mord überhaupt nicht nahegeht. Es ist
ihm gleichgültig, daß diese Frau tot ist!« Sie tauschte einen
Blick mit ihrer Mutter. »Mama, er hat behauptet, er sei nie mit
Mrs. Lewis zusammengetroffen. Und auch wenn er sie
persönlich gekannt hätte, der Mord interessiere ihn nicht. Er
hat gesagt, jeder Mensch muß einmal sterben, es ist nicht
wichtig, auf welche Weise man stirbt.«
Ein langes Schweigen erfüllte den Raum. Carol Cochran
stand auf, um sich neben ihre Tochter zu setzen. In Marsh'
Augen spiegelte sich kalte Wut. Er sah seine Frau an. »Alex
hat das sicher nicht so gemeint«, begann Ellen. Aber er fiel ihr
ins Wort.
»Wenn er es nicht so meint, dann soll er es nicht sagen! Er
ist intelligent genug, um zu verstehen, wann er den Mund zu
halten hat.« Marsh stand auf, durchquerte die Wohnhalle und
ging die Treppe hinauf.
»Marsh, laß ihn jetzt in Ruhe«, bat Ellen. Aber es war zu
spät. Sie konnten hören, wie er die Treppe hinaufging. Ellen
wandte sich zu Lisa. »Wirklich, Lisa«, sagte sie mit brüchiger
Stimme. »Er hat es nicht so gemeint...«
Marsh trat ein, ohne anzuklopfen. Er fand seinen Sohn auf
dem Bett sitzend vor. Aus dem Stereogerät ertönte Eine kleine
Nachtmusik. Alex sah von dem Buch auf, in dem er gelesen
hatte.
»Sind Lisas Eltern schon nach Hause gefahren?« fragte er.
»Nein, das sind sie nicht«, sagte Marsh grimmig. »Sie sitzen
unten und wundern sich über dein Verhalten. Was zum Teufel
hast du zu Lisa gesagt?« Er fuhr fort, bevor Alex etwas
antworten konnte. »Du brauchst es nicht zu wiederholen. Ich
weiß, was du gesagt hast. Was ich von dir wissen möchte, ist: Warum hast du das gesagt? Du hast Lisa so schockiert, daß sie
in Tränen aufgelöst ist. Ich muß sagen, ich kann sie nur zu gut
verstehen.«
»Sie weint? Warum?«
Alex lächelte, und Marsh starrte ihn an wie eine Erscheinung. War es denkbar, daß sich der Junge nicht vorstellen
konnte, welche Wirkung seine Worte auf ein Mädchen wie
Lisa haben mußten?
»Sie weint, weil du ihre Gefühle verletzt hast«, beantwortete
er die Frage seines Sohnes. »Sie weint, weil dir der Tod von
Mrs. Lewis nichts bedeutet.«
»Ich hatte nie Kontakt mit Mrs. Lewis«, sagte Alex. »Lisa
hat mich gefragt, ob ich mich mit ihr über diese Frau
unterhalten will. Wie kann ich über jemanden sprechen, den
ich nie kennengelernt habe?«
»Das ist nicht alles, Alex«, sagte Marsh. »Du hast mit Lisa
über das Sterben gesprochen. Du hast gesagt, alle Menschen
müssen sterben, und es kommt nicht darauf an, auf welche
Weise man zu Tode kommt.«
»Habe ich denn nicht recht?« konterte Alex. »Alle Menschen
müssen sterben. Warum ist es so wichtig, wie man stirbt?«
»Alex«, sagte Marsh. »Marty Lewis ist ermordet worden!«
Alex nickte, und dann sagte er: »Aber sie ist doch tot, oder?«
Marsh holte tief Luft. »Alex, es gibt Dinge, die du verstehen
mußt, auch wenn sie dir nichts bedeuten. Menschen haben
Gefühle, und diese Gefühle sollte man nicht ohne Not
verletzen.«
»Ich weiß, daß die Menschen Gefühle haben«, antwortete
Alex. »Ich kann das nur nicht nachempfinden.«
»Gewiß. Aber das ändert nichts daran, daß die Menschen
von dir enttäuscht sind, wenn du auf ihren Gefühlen
herumtrampelst. Eines Tages wirst auch du wieder Gefühle
haben. Bis es soweit ist, möchte ich dich bitten, in der Wahl
deiner Worte äußerst vorsichtig zu sein.«
»Darf ich den Menschen denn nicht die Wahrheit sagen?«
fragte Alex.
»Auch wenn du ihnen die Wahrheit sagst, mußt du die
Regeln der Höflichkeit beachten. Außerdem solltest du dir vor
Augen halten, daß du die Wahrheit nicht gepachtet hast. Zum
Beispiel fehlt dir die Einsicht, daß man Menschen nicht nur
körperlich,
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