Das Kind der Rache
konnte.
Plötzlich war Lisa ganz nahe vor ihm. »Glaubst du, daß Mrs.
Lewis von ihrem eigenen Mann ermordet worden ist?«
Alex dachte einige Sekunden nach, bevor er ihr antwortete.
»Wie soll ich das wissen?«
»Niemand weiß, wer's getan hat«, sagte Lisa. »Ich habe dich
gefragt, ob du einen Verdacht hast.«
Jetzt fiel Alex der Traum ein, den er in der Nacht vor Mrs.
Lewis' Ermordung gehabt hatte.
»Ich glaube nicht, daß Mr. Lewis den Mord begangen hat«,
sagte er. »Jemand anderes hat's getan.« Er zögerte. »Und dieser
Jemand wird weitermorden.«
Lisa sprang von ihrem Stuhl auf. »Was du da sagst, ist ganz
entsetzlich«, flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte vor Zorn.
»Wenn du mir beweisen wolltest, daß du verrückt bist, dann
hast du's jetzt geschafft. Nur ein Verrückter kann so etwas
sagen!« Sie ergriff ihren Bücherstapel, eilte zum Ausgang des
Lokals und schlug die Tür hinter sich zu. Alex sah ihr aus
leeren Augen nach.
Siebzehntes Kapitel
Ellen saß in ihrem Sessel und hörte zu, wie ihr Mann - es war
jetzt bereits das dritte oder vierte Mal - die Klauseln der
Vollmacht herunterbetete, die sie vor Alex' Operation
unterzeichnet hatten. Seit einer Stunde diskutierten sie nun
über dieses Thema, aber Ellen beharrte auf ihrem Standpunkt,
daß die Befürchtungen ihres Mannes übertrieben seien.
»Marsh, du bist wirklich paranoid«, befand sie, als er seinen
Vortrag beendet hatte. »Du machst dir völlig falsche
Vorstellungen von den Plänen, die Dr. Torres mit unserem
Sohn hat. Raymond hat bei der Sache überhaupt keine
Hintergedanken. Du solltest dich einfach einmal daran
gewöhnen, daß er der behandelnde Arzt des Jungen ist. Was
immer er tut, es ist zu Alex' Bestem.«
»Wenn er wirklich nichts Böses im Sinn hat, warum verwehrt er uns dann den Einblick in die Krankengeschichte?«
fragte Marsh.
»Das weiß ich nicht. Aber ich bin sicher, daß es dafür eine
plausible Erklärung gibt. Jedenfalls finde ich, daß du dieses
Problem mit Dr. Torres und nicht mit mir besprechen mußt.«
Marsh hatte vor dem Kamin gestanden, die Ellenbogen auf
den Kaminsims gelehnt. Jetzt wirbelte er herum, so zornig war
er. Seine Frau hatte nichts von dem verstanden, was er ihr zu
erklären versuchte. Er hatte von der Mauer des Schweigens
gesprochen, die dieser Mann um Alex errichtet hatte, von den
fragwürdigen Bedingungen, die in der unterzeichneten
Vollmacht enthalten waren. Aber was er auch gegen Dr. Torres
vorbrachte, Ellen war nicht von ihrem positiven Urteil
abzubringen. Für sie war im Endeffekt nur eines maßgebend:
Dr. Torres hatte Alex das Leben gerettet.
»Warum ist die Krankengeschichte denn so wichtig?« hörte
er sie fragen. »Tatsache ist, daß die Operation ein Erfolg war.
Tatsache ist auch, daß die Behandlung anschlägt, und nur
darauf kommt es an!« Bitterkeit mischte sich in ihre Stimme.
»Statt den Arzt zu verdächtigen, solltest du ihm dankbar sein!
Du hast doch immer gesagt, daß Alex ein begabter Junge ist.
Jetzt hat dir Raymond den Beweis geliefert, daß es wirklich so
ist.«
»Es steckt etwas ganz anderes dahinter«, widersprach er.
»Ellen, ich flehe dich an, betrachte Alex doch einmal mit ganz
nüchternen Augen. Der Junge ist wie ein Roboter. Er hat keine
Gefühle mehr, für niemanden von uns. Er ist... In gewisser
Weise benimmt er sich genauso wie dein hochverehrter
Raymond Torres. Eine Besserung ist nicht abzusehen.«
Jetzt war Ellen wirklich wütend. Sie wußte, die Worte, die
sie jetzt aussprechen würde, konnten den Graben, der sie von
ihrem Mann trennte, nur noch erweitern. Aber das war ihr jetzt
gleichgültig. »Ich wußte es von Anfang an! Bei diesem Streit
geht es dir gar nicht um den Einblick in die Krankengeschichte,
sondern um dein tief verwurzeltes Mißtrauen gegen Raymond.
Du bist eifersüchtig auf die Erfolge dieses Mannes, Marsh. Er
hat etwas vollbracht, wozu du nicht imstande gewesen wärest,
und das kannst du nicht ertragen.«
Marsh schwieg. Ein paar Sekunden verstrichen. Schließlich
nickte er. »Ich gebe zu, daß bei meiner Einschätzung dieses
Mannes zu Anfang so etwas wie Neid oder Eifersucht eine
Rolle spielte«, sagte er. Er ließ sich in seinen Lieblingssessel
sinken. »Aber darum geht es jetzt nicht mehr. Bei der
Behandlung unseres Sohnes läuft etwas falsch, Ellen.
Gründlich falsch. So sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, die
Sache bleibt mir ein Rätsel. Wie ist es möglich, daß Alex
intellektuell und
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