Das Kind der Rache
physisch geradezu unglaubliche Fortschritte
macht, während der emotionale Bereich völlig gelähmt bleibt?«
»Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung...«
Marsh fiel ihr ins Wort. »Oh, natürlich gibt es eine Erklärung!« Er war aufgestanden und durchmaß mit nervösen
Schritten den Raum. »Aber die ist irgendwo in der
Krankengeschichte versteckt, die Dr. Torres uns nicht einsehen
läßt.«
Ellen seufzte und stand auf. »Dieser Streit führt zu nichts.
Wir bewegen uns im Kreise. Ich bin sicher, Raymond hat gute
Gründe dafür, daß er die Krankengeschichte unseres Sohnes
unter Verschluß hält. Und was die Bedingungen der
Verzichtserklärung angeht, die du unterschrieben hast...« Sie
zögerte, bevor sie ihm das Problem wieder zuspielte. »Ich
fürchte, das ist eine Sache, die du mit dir selbst ausmachen
mußt. Schließlich hast du das Formular unterschrieben.«
»Willst du damit sagen, wir sollen uns mit diesen Bedingungen abfinden?«
»Ich glaube, all die Klauseln in der Vereinbarung dienen nur
dazu, Alex zu schützen. Ich bin zuversichtlich, daß Raymond
mir die Bedeutung der Vereinbarung noch näher erklären wird.
Einen Anlauf dazu hat er neulich bereits gemacht.«
»Neulich? Wovon redest du?«
»Ich habe mit Raymond vor einigen Tagen ein längeres
Gespräch geführt«, erwiderte Ellen. »Als du mir gesagt hast,
daß du Alex von der Schule nehmen und nach Stanford
schicken willst, habe ich mich mit Raymond beraten. Ich
dachte... nun, ich hatte ganz einfach Angst, daß du seinen guten
Rat in den Wind schlagen würdest. Raymond hat mir
versichert, daß ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Er
sagte auch... wenn du etwas gegen ihn unternimmst, so würde
er Mittel und Wege finden, mit dir fertig zu werden.«
Marsh kam sich wie in einem Alptraum vor. »Er würde
schon mit mir fertig werden? Das hat er tatsächlich gesagt?«
Ellen beantwortete seine Frage mit einem Kopfnicken.
»Und es hat dich ganz kalt gelassen, daß er diesen Ausdruck
benutzt hat? Daß er mich wie einen Gegner behandelt, mit dem
man fertig werden muß?«
Ellen ließ ein paar Sekunden vergehen, bevor sie antwortete.
»Es hat mich nicht gestört, daß er das gesagt hat. Im Gegenteil,
ich war erleichtert.«
Was Ellen sagte, traf Marsh wie ein Schlag. Er sank in
seinem Sessel zurück, während Ellen aufstand und den Raum
verließ.
Alex hatte es aufgegeben, den Fortgang des Streits zu verfolgen, den seine Eltern im Erdgeschoß des Hauses führten. Er
lag auf seinem Bett und las in dem Buch, das er aus der
Bibliothek ausgeliehen hatte.
Als er seinen zweiten Besuch in der Bibliothek machte, hatte
Arlette Pringle unwillkürlich nach dem Buch gegriffen, in dem
die Geschichte von La Paloma behandelt war. Alex hatte ihr
dann gesagt, daß er sich heute für etwas ganz anderes
interessierte.
»Ich möchte gerne ein paar medizinische Bücher ausleihen.«
»Medizinische Bücher? Da wirst du besser in der Bibliothek
deines Vaters fündig.«
»Dort stehen fast nur veraltete Titel«, wandte Alex ein. »Ich
suche ein neues Buch, und zwar eines über das menschliche
Gehirn.«
»Das menschliche Gehirn?«
Er nickte. »Haben Sie Bücher zu diesem Thema?«
Arlette Pringle nahm ihre Brille ab. Sie kaute am Bügel der
Brille, während sie die medizinischen Titel der Bibliothek in
ihrer Erinnerung Revue passieren ließ. »Es gibt ein Buch«,
sagte sie schließlich, »das gerade erst hereingekommen ist.«
Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und ging zu dem kleinen
Regal mit der Aufschrift ›Sachbücher‹. Sie zog ein schwarz
eingebundenes Buch heraus. »Da haben wir's schon. Das
Gehirn. Ist das speziell genug?«
Alex durchblätterte das Buch. »Ich denke, ja«, antwortete er.
»Darf ich's mitnehmen?«
Arlette führte ihn zu ihrem Schreibtisch zurück und erklärte
ihm die Prozedur der Ausleihe. »Falls dir das Drum und Dran
sehr ungewohnt vorkommt«, sagte sie trocken, »kann ich dir
verraten, warum. Du hast in dieser Bibliothek, soweit ich mich
erinnere, noch nie ein Buch ausgeliehen.«
»Ein Punkt mehr, in dem ich mich von den anderen Schülern
unterscheide«, sagte Alex. Und er dachte: Vielleicht ist die
Erklärung, warum ich anders bin, in diesem Buch versteckt.
Und nun war er zu Hause und las in dem entliehenen Buch.
Es war das siebte Kapitel, das ihn ganz besonders interessierte,
das Kapitel, das sich mit dem Vorgang des Lernens und des
Erinnerns befaßte.
Was auf jenen Seiten ausgeführt wurde, stürzte Alex in
große
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