Das Kind der Rache
vorstellen, daß Ellen so etwas
glaubt.«
»Ich bin nicht sicher, ob sie selbst glaubt, was sie sagt. Wir
haben heute früh über die Sache gesprochen. Ellen steht unter
dem Eindruck des Mordes, der an ihrer Freundin Marty Lewis
verübt wurde. Das alles so kurz nach Alex' Unfall...«
»Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Unfall und
dem Mord«, sagte Dr. Mallory.
»Das habe ich ihr auch gesagt. Wie auch immer, ich bin
zuversichtlich, daß Ellen wieder zur Vernunft kommt. Was mir
viel schwerer im Magen liegt, ist das Verhalten von Dr.
Torres.« Er erzählte Dr. Mallory von der Unterhaltung, die er
mit dem Gehirnchirurgen auf der Beerdigung geführt hatte.
»Und zum Schluß hat er gesagt, ich soll mir die Durchschrift
der Vollmacht durchlesen, die ich ihm gegeben habe!«
»Das sollten Sie in der Tat tun, Dr. Lonsdale«, sagte Dr.
Mallory. »Vielleicht steht etwas drin, worauf Sie damals bei
der Unterzeichnung nicht geachtet haben.«
Bevor Marsh etwas antworten konnte, öffnete sich die Tür.
Barbara Fannon trat ein. Ihr Gesichtsausdruck verriet Marsh
sofort, daß etwas nicht stimmte.
»Was ist los? Was sagt das Institut in Palo Alto?«
Barbara schüttelte den Kopf, als könne sie immer noch nicht
glauben, was sie soeben erfahren hatte. »Dr. Torres' Sekretärin
sagt, sie wollen uns über die Behandlung, die bei Alex
durchgeführt wurde, keine Informationen geben. Sie weigern
sich auch, uns die frühere Krankengeschichte
zurückzuschicken.«
»Das ist unmöglich«, sagte Marsh. »Das dürfen sie nicht!«
»Die Sekretärin sagt, sie dürfen.« Barbara sprach so leise,
daß die beiden Männer sie nur mit größter Anstrengung
verstehen konnten. »Sie behauptet, diese Dinge sind alle sehr
klar in der Verzichtserklärung geregelt, die Sie und Ellen vor
der Operation unterschrieben haben.«
»Ich kann das nicht glauben«, sagte Marsh. »Wo ist das
Formular?«
Barbara gab ihm eine Mappe. »Ich dachte mir, daß Sie das
Schriftstück sehen wollen«, sagte sie. »Ich... Ich hab's schon
durchgelesen.«
Marsh studierte die schriftliche Erklärung, die er unterzeichnet hatte. Dann gab er die Mappe an Dr. Mallory
weiter.
»Damit wird Dr. Torres nie durchkommen«, sagte Mallory,
nachdem er den Inhalt des Dokuments überflogen hatte. »Kein
Gericht in den Vereinigten Staaten würde das anerkennen.
Mein Gott, nach dem Text der Vollmacht ist dieser Mann
überhaupt niemandem verantwortlich! Er steht über dem
Gesetz. Er braucht keine Krankengeschichten herauszugeben.
Er ist nicht verpflichtet, über die einzelnen Behandlungsschritte
Auskunft zu geben. Er kann mit Alex machen, was er will. Mit
Ihrer Unterschrift haben Sie ihm sogar das Sorgerecht für Ihren
Sohn übertragen. Ich frage mich, warum Sie so etwas
überhaupt unterzeichnet haben.«
»Ich hätte es wirklich durchlesen sollen«, sagte Marsh. Seine
Stimme klang hohl.
»Er hat Sie hinters Licht geführt«, sagte Dr. Mallory. »Sie
sollten sich sofort einen Anwalt nehmen.«
Marsh nickte. »Ich bin nur nicht sicher, ob mir der Anwalt
helfen kann. Vielleicht dauert es Monate oder Jahre, bis das
Dokument für ungültig erklärt wird. Übrigens hätte ich die
Erklärung damals auch dann unterzeichnet, wenn ich jede
einzelne Zeile durchgelesen hätte. Es gab keine andere
Lösung.«
»Dann war es Erpressung«, stellte Dr. Mallory fest.
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Marsh.
Ein bedrückendes Schweigen erfüllte den Raum. Es war
Barbara und Dr. Mallory klar, daß ihr Chef sich in eine
Sackgasse manövriert hatte. Dr. Torres schien alle Trümpfe in
der Hand zu haben.
Alle drei dachten daran, Alex vor Dr. Torres in Sicherheit zu
bringen, ihn für eine Weile in einer anderen Stadt oder in
einem anderen Bundesstaat zu verstecken. Und alle drei
wußten, daß dies jetzt nicht mehr möglich war.
Der einzige, der über die bei Alex eingeleitete Behandlung
informiert war, war Dr. Torres.
Es war eine Falle. Eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab.
Alex kauerte sich auf dem Hügel oberhalb der Hazienda nieder.
Es war nachmittags. Der Wind trug die kühle Brise vom Meer
heran. Der Junge sah auf das Haus hinab, das wie ein Riegel
vor der Ortschaft lag. In seiner Erinnerung formten sich bunte
Bilder.
Er sah Pferde, die im Hof der Hazienda standen. Er sah
Soldaten, die den Weg hinaufgeritten kamen.
Er sah Tagelöhner, die mit ihrer ärmlichen Habe auf dem
Rücken durch das Hoftor gingen.
Drei Menschen blieben im Hof zurück. Alex konnte
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