Das Kind der Stürme
doch ausgemacht, erst später über diese Dinge zu sprechen«, gelang es mir schließlich hervorzubringen. »Warum habt Ihr mir das jetzt erzählt?«
Eamonn wich meinem Blick aus. Er starrte immer noch aus dem Fenster und sah zu, wie ein Mann mit einer Mistgabel auf der Schulter den Weg entlangging, gefolgt von zwei Hunden.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich denke, zu sehen, wie du dort still im Zimmer gesessen hast, hat mir ein Gefühl von – von Richtigkeit gegeben, davon, wie mein Leben sein könnte, wenn die Dinge anders wären.«
Ich schwieg.
»Ich wollte nicht darüber sprechen; ich habe es dir beinahe gegen meinen Willen erzählt. Es ist dumm und schwach. Man kann etwas nicht zurückbekommen, wenn man es niemals hatte.«
Ich stand auf. »Ich werde jetzt gehen«, sagte ich leise. »Ich muss mich um die kleinen Mädchen kümmern, und dann sollte ich mich wieder ausruhen. Dieser Ritt zum Wasserfall war anstrengender, als ich gedacht hätte.«
»Das war gedankenlos von mir.« Eamonn verzog missmutig das Gesicht und starrte mich an. »Sehr gedankenlos.«
»Kein Grund zur Sorge«, erklärte ich leichthin. »Nach dem Abendessen können wir vielleicht wieder Brandubh spielen und weiter über diese Dinge sprechen.«
»Ich glaube nicht –«
»Ich schon.« Mein Tonfall war entschlossen. »Und zuvor solltet Ihr vielleicht noch über eine Frage nachdenken.«
Er wartete.
»Die Frage lautet«, sagte ich, »was müsst Ihr noch tun, damit Ihr Euch weiterbewegen könnt? Worauf wartet Ihr, bevor ihr Euer Leben wieder in die Hand nehmt und dafür sorgt, dass Ihr in ein Heim zurückkehren könnt, wo man Euch mit offenen Armen, einem warmen Herzen und dem Lachen von Kindern begrüßt? Welcher Feind ist es, den Ihr niederstrecken müsst, um das tun zu können?«
»Du kannst nicht –«
»Ach«, sagte ich, »ich habe es aber schon getan. Ich habe die Frage gestellt, und ich möchte eine Antwort.«
»Ich werde nicht mehr über diese Dinge sprechen. Sie sollten lieber unberührt bleiben.«
»Das denke ich nicht«, sagte ich. »Ihr habt bisher nur ein halbes Leben geführt. Wenn Ihr auch noch den Rest wegwerft, dann hat Euer Feind Euch tatsächlich besiegt. Und jetzt werde ich gehen. Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?«
Er nickte höflich, aber er hatte die Zähne fest zusammengebissen.
»Legt die Hände auf den Rücken«, sagte ich. »Und schließt die Augen, bis ich Euch sage, dass Ihr sie wieder öffnen dürft.«
Er war so verblüfft, dass er tat, was ich wollte. Ich legte die Handflächen an beide Seiten seines Gesichts und spürte, wie er sich anspannte.
»Augen zu«, sagte ich streng. Dann zwang ich mich, ihn zu küssen, ein Kuss, der als die leichte Berührung der Lippen begann, die man von einem unschuldigen jungen Mädchen erwartete. Aber Großmutter hatte mir vieles beigebracht. Ich wusste, wie man diesen Kuss mit einem geringen Öffnen der Lippen, einer kurzen Bewegung der Zunge zu etwas anderem werden ließ, etwas, das das Blut eines Mannes brodeln und seinen Atem schneller werden ließ, wie es jetzt auch bei Eamonn geschah. Ich wartete auf den Augenblick, in dem er nicht mehr im Stande war, die Hände auf dem Rücken zu verschränken, und in diesem Augenblick tat ich einen Schritt zurück.
»Fainne!«, flüsterte er und starrte mich an. »Was tust du mit mir?«
»Nichts«, erwiderte ich mit großen staunenden Augen. »Ich wollte Euch nur zeigen, dass auch ich glaube, dass ein Kompromiss möglich ist. Übrigens, falls Ihr in Zukunft Schwierigkeiten mit dem Lesen habt, könnte ich Euch helfen. Ich bin gut darin geübt, und meine Augen sind jünger.«
Ich drehte mich um und verließ das Zimmer, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte.
Es war nicht leicht. Ich verachtete mich für das, was ich tat. Ich schauderte bei dem Gedanken daran, was Vater denken würde, wenn er mich sehen könnte. Er hatte mich immer meinen eigenen Weg finden und meine eigenen Fehler machen lassen, aber das hier hätte ihn zutiefst schockiert. Dennoch, ich fand in mir die Kraft, weiterzumachen. Es gab da dieses kleine Bild meines Vaters, der Blut hustete. Dann gab es ein anderes, in dem Darragh und Aoife weiter nach Westen zogen, weg von der Gefahr. Und was war mit den kleinen Mädchen, die so unterschiedlich und jede auf ihre eigene Weise so kostbar waren? Sie vertrauten mir ohne jeden Zweifel; ich konnte sie nicht dem zerstörerischen Zorn meiner Großmutter aussetzen. Ich musste nur daran denken,
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