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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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erschrocken, dort wo ich vor der kalten Feuerstelle im Halbdunkel saß. Einen Augenblick lang hatte ich geglaubt – ich hatte wirklich geglaubt – aber nein, dieses leise Heulen war nicht die Stimme meiner Großmutter.
    »Findest du?«, fragte ich vorsichtig, während mein Herzschlag wieder zu seinem normalen Tempo zurückkehrte, und ich drehte mich um, um das eulenähnliche Geschöpf anzusehen, das neben meinem Fenster in seinem Federkleid und kleinen roten Stiefeln stand und mich mit runden Augen anschaute. Ich war wohl tatsächlich sehr in Gedanken versunken gewesen, wenn ich nicht einmal bemerkt hatte, wie es hereingeflattert war und sich verändert hatte.
    »Ich weiß es, Feuerkind. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du siehst blass aus. Was willst du also sein? Vielleicht eine rote Katze, ganz Fauchen und Gefährlichkeit? Ein Floh? Das würde dir wirklich sehr intime Einsichten verschaffen. Du wirst heute Nacht etwas erfahren können, denn sie sitzen alle noch im Laternenlicht und sind wach; sie beraten sich hinter verschlossenen Türen. Beeil dich lieber.«
    Ich runzelte die Stirn. »Jetzt kannst du also auch noch meine Gedanken lesen?«, fragte ich und war nicht sicher, ob ich diesem kleinen Geschöpf wirklich trauen sollte, das so viel zu verstehen schien, ohne dass man es ihm sagte.
    Es lachte gurgelnd. »Nein, das können wir nicht. Wir haben nur darauf gewartet, dass du von selbst auf diese Lösung kommst, das ist alles. Und wir sind überall, obwohl die Leute uns nicht sehen. Wir lesen es in euren Augen. Es hat lange genug gedauert, bis du deinen Weg durch dieses Rätsel gefunden hast, und dabei bist du doch die einzige Tochter eines Druiden.«
    Darauf schien es keine Antwort zu geben, außer vielleicht einer Frage. »Glaubst du – glaubst du, Vater hätte vorgehabt –«
    »Die Frage wirst du ihm selbst stellen müssen. Und jetzt komm. Die Zeit vergeht schnell. Was willst du sein?«
    Ich schauderte. »Ich muss unsichtbar in das Zimmer gelangen, in dem sie sich miteinander besprechen, im Dunkeln durch eine verschlossene Tür gelangen, mich unbeachtet dort aufhalten und sicher hierher zurückkehren können. Keine Katze, das ist schon mal sicher. Ein Geschöpf der Nacht, ein kleines, das durch die Ritze zwischen der Tür und dem Rahmen gelangen kann.«
    »Eine Küchenschabe?«, schlug das Geschöpf hilfreich vor.
    »Ich dachte an eine Motte«, sagte ich, und schon bei dem Gedanken daran zitterte meine Stimme.
    »Gute Idee. Also dann los.«
    Ich erinnerte mich verspätet daran, dass auch eine Eule ein Geschöpf der Nacht war, und musste an das Lager des fahrenden Volks und einen gewissen winzigen Raubvogel denken, der sich mit nadelscharfen Krallen und zuschnappendem Schnabel auf seine Beute gestürzt hatte.
    »Ich hoffe, du bist nicht nur hier, weil du ein schnelles Abendessen suchst«, erklärte ich stirnrunzelnd.
    »Ich habe bereits gegessen, danke«, erwiderte das Geschöpf höflich. »Komm schon, beeil dich. Kannst du es oder nicht?«
    »Ich habe es noch nie zuvor versucht.«
    »Das wissen wir. Deshalb bin ich hier. Du wirst beim ersten Mal ein wenig Hilfe brauchen. Aber solche Verwandlungen sind für die von deiner Art wie eine zweite Natur. Lass dich jedoch warnen, du wirst es hinterher spüren. Es ist ziemlich anstrengend. Du solltest den Zauber erst rückgängig machen, wenn du wieder sicher in deinem Zimmer bist.«
    Der erste Schritt. Es war notwendig, im Geist ein Bild zu schaffen, eine Art von Landkarte dessen, was zu tun war. Sie musste schlicht genug sein, dass selbst das kleinste, einfachste Geschöpf sich daran halten konnte. Ich schloss die Augen und stellte mir den Weg vor, dem ich folgen musste, aus meinem Zimmer heraus, unter der Tür durch, wo ein Spalt die Winterkälte einließ, und den langen Flur entlang zu der Kammer, in der sie miteinander saßen: ein kleiner, abgelegener Raum oben am Ende der Treppe. Ich stellte mir den Umriss dieser Tür vor, und Licht, das durch die Ritzen zwischen Tür und Rahmen fiel. Ich musste durch den Spalt oben an der Tür eindringen und mich dann einfach an Mauer oder Decke festhalten und lauschen, bis ich etwas gehört hatte, das meine Großmutter davon überzeugen konnte, dass mein Plan erfolgreich sein würde. Dann ließ ich mich den Rückweg spüren und sehen: wieder zurück durch den winzigen Spalt, auf schnellen Flügeln den Flur entlang, zu meiner eigenen Tür und darunter hindurch zurück in mein sicheres Zimmer kriechen. Dieses Muster musste

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