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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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und berührte zu beiden Seiten mit den Fingern die Felsen. Ich gab keinen Laut von mir. Ein Stück weiter drinnen wurde der Tunnel breiter; ich konnte nur wenig sehen, aber die Luft bewegte sich, und ich hatte ein Gefühl größeren Raums und hörte das Plätschern von Wasser, das nicht vom Meer her kam. Ich sah etwas Weißes vor mir zwischen all den Schatten, wie eine Tuchfalte oder Federn. Ich streckte eine Hand nach vorn aus, und statt auf Steine zu stoßen oder ins Leere zu greifen, berührten meine Finger etwas Weiches, Warmes, unmissverständlich Lebendiges. Ich stieß einen erschrockenen Ruf aus, wich zurück, trat auf mein Kleid und fiel hin. Ich hörte einen erschrockenen Aufschrei im Dunkeln, der beinahe ein Echo meines eigenen war, und dann Schritte, die sich rasch zurückzogen. Ich blieb sitzen und versuchte, langsamer zu atmen. Einatmen, ausatmen. Ruhe. Disziplin. Weiter hinten flackerte Licht auf, und dann kam das stetige Glühen einer Laterne näher. Ich kam langsam auf die Beine und starrte den Mann mit der Laterne ungläubig blinzelnd an. Er starrte zurück. Zweifellos war der Schrecken auf seinen bleichen Zügen ein Spiegelbild meiner eigenen Empfindungen. Aber es war nicht die Aufregung über diese unerwartete Begegnung, die mein Herz schneller schlagen ließ. Es war nicht einmal die Ähnlichkeit des Mannes mit Onkel Sean und Tante Liadan, es war nicht sein schmales, bleiches Gesicht und das wirre dunkle Haar, die schlanke, aufrechte Gestalt oder der kluge Blick. Es waren auch nicht sein abgetragenes Gewand, sein geflickter Umhang und die bloßen Füße, die mich erschreckten. Es war der Flügel, den er an Stelle des linken Arms hatte; ein großes, schimmerndes Ding, das im Laternenlicht golden und hellrosa und cremefarben leuchtete. Meine Großmutter hatte gesagt: Du wirst dich vor dem Mann mit dem Schwanenflügel hüten müssen.
    »Du bist aus der Siedlung ausgerissen«, stellte der Mann schließlich fest, nachdem er mich einige Zeit angesehen hatte.
    »Wer bist du?«, brachte ich heraus, immer noch ein wenig außer Atem. Seine Stimme war seltsam; er hatte keinen Akzent, sprach aber so zögernd wie jemand, der nicht in seiner Muttersprache redet.
    »Sieht so aus, als hätte sich meine Geschichte nicht bis nach Kerry verbreitet«, sagte er trocken. »Komm. Du hast einen langen Weg hinter dir. Du wirst dich sicher ausruhen und vielleicht etwas trinken wollen. Ich habe hier kein Feuer, aber ich kann frisches Wasser holen, und du kannst dich hinsetzen und ein wenig ausruhen. Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan.«
    »Nicht körperlich, nein«, sagte ich grimmig und folgte ihm, als er vor mir tiefer in die Höhle hineinging. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben. Ich konnte mich wohl kaum hinsetzen und mich weigern, mich vom Fleck zu rühren.
    Wir kamen an eine Stelle, an der sich Felssimse an der Wand entlangzogen und ein stiller Teich glitzerte. Über uns öffnete sich die Kammer zum Himmel hin; im dunklen Wasser spiegelten sich die Sterne, weit entfernt und geheimnisvoll. Der Mann stellte die Laterne ab und nahm einen kleinen Becher aus dunklem Metall vom Boden. Er beugte sich vor und füllte ihn aus dem Teich, und ich hörte, wie er Worte murmelte, vertraute Worte. Er reichte mir den Becher mit der rechten Hand. Ich versuchte, die Federn, die von dem uralten, geflickten Umhang nur halb verborgen wurden, nicht anzustarren.
    »Danke«, sagte ich und trank, und ich spürte, wie die Kühle und Reinheit des Wassers in mein Wesen drangen. Nun konnte ich langsamer atmen und wurde ruhiger. »Du erweist der Erde Ehre, wenn du etwas von ihr nimmst«, stellte ich fest.
    »Ich bin kein Druide, Kind, aber meine Mutter hat uns schon früh beigebracht, die Geschenke der Erde zu achten. Es ist eine Lektion, die man nicht vergisst.«
    »Uns?« Ich suchte in meiner Erinnerung. Ich kannte selbstverständlich die Geschichte; aber obwohl sie auch Teil meiner eigenen Geschichte war, hatte ich sie wohl nicht ganz geglaubt. Ich hätte es tun sollen. Dieses Geschöpf, halb Mann, halb Schwan, war eine Schöpfung meiner Großmutter. »Du und Conor und deine anderen Brüder, meinst du?«
    Er nickte. »Und meine Schwester. Warum bist du hergekommen?«
    »Es war ein Zufall. Ich wusste nicht, dass jemand hier war. Sie haben es mir nicht gesagt. Ich wollte – ich war nur auf der Suche nach einem Versteck. Nur für kurze Zeit.«
    »Dann hast du eins gefunden. Werden sie dich nicht suchen?«
    »Das interessiert sie

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