Das Kind der Stürme
wie weit dein Vater dich unterrichtet hat –«
»Ich habe am eigenen Leib erfahren, wovon du sprichst«, sagte ich angespannt. »Die Instinkte haben große Macht über ein solches Wesen. Es kann schwierig sein, sie beiseite zu schieben und man selbst zu bleiben.«
»Dann weißt du es. Dann begreifst du vielleicht auch ein wenig, wie es für mich ist. Seit dieser Zeit, seit die Zauberin mich verändert hat, habe ich ein wenig von beidem in mir behalten, Mensch und Schwan. Ich bin nie ganz frei von dieser Angst, ich fürchte den Frost, die Jäger, das zuschnappende Maul eines Jagdhundes. Deshalb lebe ich hier und nicht in der Siedlung. Liadan war klug und hat mich freundlich behandelt. Du scheinst daran zu zweifeln, Kind. Deine Tante wird schon begreifen, aus welchem Stoff du gemacht bist.«
»Woher kannst du das wissen?«, fragte ich ihn. »Hast du es gesehen?«
»Nein. Aber ich glaube es trotzdem. Ich sehe, dass du den Hexenzauber, den du um den Hals trägst, nicht ablegen willst. Dann sag mir, was du für seinen Zweck hältst.«
Ich sah mich um und senkte die Stimme. Ich legte die Hand auf das Amulett und spürte wieder das kalte, feste Metall. »Bist du sicher, dass nichts passieren wird?«, flüsterte ich.
»Vollkommen sicher, Kind.«
»Es bewirkt – es bewirkt, dass sie mich sehen kann«, flüsterte ich ganz leise. »So kann sie mir folgen und dafür sorgen, dass ich tue, was sie will. Sie beobachtet mich nicht die ganze Zeit, aber wenn sie mich sehen und hören will, dann kann sie das, solange ich dieses Amulett trage. Wenn sie in der Nähe ist, scheint es wärmer zu werden – dann, und wenn sie zusieht. Und …« Ich zögerte. »Und – ich denke, es hat auch noch eine andere Wirkung. Das einzige Mal, als ich es abgenommen habe, wurde ich wieder ich selbst, wie ich einmal gewesen bin. Ich konnte klar denken, ich konnte mich dann daran erinnern, dass ich gut sein und kluge und richtige Entscheidungen treffen konnte. Sogar wenn ich es trage. Aber es ist eine große Versuchung, nur die Finsternis in mir zu sehen. Ohne diese Schnur, ohne diesen Zauber der Familie wüsste ich nicht, wie ich hätte weitermachen können.«
»Warum nimmst du das Ding dann nicht einfach ab, wenn es dir so schadet?«
»Weil«, sagte ich mit zitternder Stimme, »sie damals, als ich es abgenommen habe, sofort böse wurde und mich bestraft hat.«
Es kam mir im flackernden Licht so vor, als wäre Finbars bleiches Gesicht noch bleicher geworden. Zweifellos teilte er meine eigene Angst und verstand sie nur zu gut. »Wie hat sie dich bestraft?«
»Erst hat sie mir wehgetan. Dann, als sie sah, dass das nicht funktionierte, hat sie – sie hat die Menschen bedroht, die ich gern habe. Sie hat mich dazu gebracht, schlimme Dinge zu tun. Dinge, die nie wieder gutgemacht werden können. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der davon weiß, von ihr und mir einmal abgesehen. Ich habe so schreckliche Dinge getan; ich hätte nie geglaubt, dass ich Unschuldigen wehtun könnte, aber genau das habe ich getan. Drei gute Menschen sind wegen mir gestorben. Und jetzt, heute, ist mein kleiner Vetter Coll krank, und ich habe es nicht getan, aber Liadan will mir nicht glauben und sie werden mich wegschicken.«
»Ich könnte ihr sagen –«
»Nein! Nein, das darfst du nicht. Sie dürfen die Wahrheit nicht erfahren! Du hast gesagt, mein Geheimnis wäre sicher –«
»Quäle dich nicht. Ich werde nicht verraten, was du geheim halten willst. Aber warum sollte die Zauberin deinem kleinen Vetter etwas antun wollen? Er ist nur ein Kind.«
»Um mich zu bestrafen«, sagte ich widerstrebend.
»Wofür bestrafen?«
»Für – für Ungehorsam. Für Langsamkeit. Ich habe mich ihrem Willen noch nicht direkt widersetzt. Noch nicht. Aber wann immer sie an meiner Treue und Fügsamkeit zweifelt, zeigt sie ihre Macht, indem sie – indem sie die bedroht, mit denen ich mich anfreunde. Auf diese Weise hat sie mich in der Hand. Ich bin sehr dumm gewesen. Ich habe mir erlaubt, Coll lieb zu gewinnen, und auch andere. Das liefert ihr nur frische Munition. Ich war dumm. Ich sollte es inzwischen wissen.«
»Eine sehr schwierige Lektion«, sagte er ernst. »Und jetzt möchte ich dir eine Theorie vorlegen. Ich habe keine Beweise dafür, aber ich halte sie trotzdem für sehr aussagekräftig. Ich glaube, dieses Amulett hat noch einen anderen Zweck. Ich werde dich nicht fragen, was die Zauberin von dir verlangt; ich habe eine gewisse Ahnung, worin ihr Ziel besteht,
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