Das Kind der Stürme
in die stille Nacht aufstieg. Finbar saß schweigend da und lauschte, und ich verspürte tiefe Ruhe, die sich von seinem Geist zu meinem eigenen auszubreiten schien, als wären wir einige Zeit lang eins gewesen. Während meine Lippen weiterhin die rituellen Worte sprachen, erschienen in meinem Geist Bilder der Vergangenheit, gute Bilder, die ich beinahe vergessen hatte. Da war mein Vater im schwarzen Umhang, mit seiner hellen Haut und dem Haar von der Farbe eines Mittwinterfeuers, wie er einem winzigen Mädchen zeigte, wie man einen Kieselstein hügelaufwärts rollen lässt. Da war das fahrende Volk auf der Straße, mit bunten Schals und lautem Gelächter, und ein Kind verbarg sich im Gebüsch, sah zu und wartete. Maeve, die mühsam lächelte, als ich Riona unter ihre Decke steckte und mich niederließ, um ihr eine Geschichte zu erzählen. Der Klang des Dudelsacks. Irgendwo gab es auch ein schönes weißes Pony und ein Tuch in Regenbogenfarben. Und … und ganz verblasst das winzige Bild einer Frau, eine zerbrechliche junge Frau mit großen blauen Augen und honigfarbenem Haar bis zur Taille. Sie saß im Sand, und ich malte Buchstaben mit dem Finger und blickte auf, und sie sagte: Gut, Fainne, und lächelte mich an. Die Bilder kamen und gingen, während ich weiter rezitierte. Ich spürte ihre Wärme in meinem Herzen, und für eine Weile hatte ich keine Angst.
Draußen dämmerte der Morgen. Ich schwieg. Finbar stand auf, füllte den Becher und reichte ihn mir. Ich bemerkte abermals, wie kalt das Wasser war; es bewirkte, dass einem seltsam klar im Kopf wurde.
»Trinkst du nichts?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Es sieht so aus, als brauchte ich diese Dinge nicht mehr – Essen, Trinken, ein weiches Bett für die Nacht. Seltsam, denke ich. Ich habe mich daran gewöhnt.«
Ich war verblüfft. »Was sagst du da? Dass du das Bedürfnis nach körperlichen Dingen überschritten hast und nur vom Geist lebst?«
»Ich fürchte, es ist nichts so Beeindruckendes. Ich weiß nicht, was es ist; ich weiß nur, dass ich offenbar nicht als das eine oder andere leben kann, weder als Mensch noch als Vogel. Und dennoch lebe ich. Ihre Strafe war in meinem Fall sehr wirkungsvoll und lebenslang.«
»Ich möchte dich noch etwas fragen.«
Er wartete höflich.
»Du warst ebenso verängstigt wie ich, als wir zusammenstießen. Ich habe dich gehört. Aber dann hast du dich entschieden, mir sofort zu vertrauen. Das verstehe ich nicht.«
»Ein Teil von mir wird von Ängsten geplagt, Fainne. Ich fürchte das Heulen der wilden Tiere, ich fürchte das Eis auf dem See, ich fürchte die Berührung von Menschen. Schon deine Hand im Dunkeln hätte genügt. Aber dein Gesicht …«
»Mein Gesicht? Bin ich so schrecklich?«
»Ich sah dir in die Augen und sah die Augen der Zauberin«, erklärte er mit diesem Schatten in der Stimme. »Ich sah sie direkt vor mir. Das brachte einen Augenblick des Entsetzens zurück, der mich nie wirklich verlassen hat, den Augenblick dieser unwiderruflichen Veränderung, des Verlusts des menschlichen Bewusstseins, des Diebstahls unseres Lebens, der Zerstörung der Unschuld meiner Schwester.«
»Es – es tut mir Leid«, sagte ich, auch wenn das längst nicht genügen würde. »Vielleicht sehe ich ihr wirklich ähnlich. Es tut mir Leid, dass ich dich erschreckt habe, aber –«
»Ich habe gelernt, tiefer zu blicken. Liadan hatte Recht, misstrauisch zu sein. Ich glaube, dass du die Macht hast, uns weiterzuführen oder uns zu vernichten, und erst im letzten Augenblick wirst du deinen Weg wählen.«
Seine Worte erschreckten mich, und ich sprach sehr vorsichtig weiter. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich werde stark genug sein. Das muss ich einfach. Und du kannst mich kaum genügend beurteilen. Du führst das Leben eines Geschöpfs, das sich verbirgt; das ist vielleicht weise, aber auch traurig für einen jungen Mann, der einmal glühte vor Leidenschaft, die Welt zu verbessern. Was ist aus diesem Feuer geworden, dass du es hier unter der Erde verschließt?«
Ich hatte ihn zweifellos verblüfft. Wahrscheinlich hatte noch nie jemand so mit ihm gesprochen. Tatsächlich bedauerte ich es sofort. Er war freundlich zu mir gewesen, und ich dankte es ihm schlecht.
Finbar schob den abgetragenen Umhang zurück, um mir das weiße Gefieder an seiner Seite zu zeigen. Er schaute auf den Flügel hinab, als wäre er sowohl eine Last als auch in gewisser Weise ein vertrauter Freund.
»Ich kann nicht in die
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