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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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instinktiv: mit den Flügeln zu schlagen, mit den Windströmungen zurechtzukommen, Licht und Schatten zu spüren, weit und nah, warm und kalt, und mich dem allem im Flug anzupassen. Aber etwas stimmte nicht. Ich flog direkt auf die Gefahr zu. Dieser Weg führte mich weg von Essen und Sicherheit und meinem Nest. Mein Instinkt riss mich zurück, schrie mir Warnungen zu: Komm zurück! Nicht dort entlang! Und diesmal gab es kein kleines Wesen aus der Anderwelt, das mich anleitete. Ich war allein, ein kleiner Bausch aus Federn und Knochen auf dem Hauch der Luft, hoch über der eisigen grauen See, auf der die kleinen Boote sich nun den höheren Wellen des offenen Wassers stellten. Die Boote. Mein Auftrag. Irgendwo da unten war mein Vetter, das Kind der Prophezeiung, auf dem Weg zum wichtigsten Feldzug seines Lebens. Irgendwo da unten war auch ein Mann vom fahrenden Volk, der kaum wusste, wo bei einem Schwert hinten und vorne war, und der dennoch um meinetwillen in den Krieg zog. Ich durfte nicht vergessen, wer ich war, was ich war. Die Taube war nur eine Verkleidung. Die Taube würde mich hinbringen. Ich durfte mich nicht in diesem Geschöpf verlieren, oder es wäre tatsächlich alles verloren. Beweg dich weiter, flieg weiter, trieb ich mich an, denn die Boote zogen rasch über den Ozean, getragen von demselben Nordwind, der mich über den hellen Himmel scheuchte. Das Meer war so tief unten; tiefer als der Sturz von einem hohen Turm, schlimmer als von einer Klippe zu springen, ein Sturz, der mich töten würde, bevor der eisige Griff des Wassers das erledigen konnte oder die Zähne eines Meeresgeschöpfs ein kleines Opfer zerrissen. In gewisser Weise würde ein solcher Sturz sogar gnädig sein.
    Meine Augen sahen eine andere Welt: weiter, heller, klarer. Es war verwirrend, denn ich sah nicht so sehr Gegenstände als Muster von Dunkel und Hell, Schatten, die Gefahr bergen konnten, helle Flecken unter mir, die vielleicht zur Rast einluden. Ich spürte meinen Körper in der Luft hängen, getragen vom Wind. Halb Mensch, halb Tier, sah ich mit den Augen des Vogels und musste mich ununterbrochen daran erinnern, was diese Dinge dort waren und was ich tun musste. Boote. Segel. Folge ihnen, sagte mein menschlicher Teil. Nach Hause, drängte der Vogel. Flieg nach Hause. Du bist zu weit vom Ufer entfernt. Aber ich flog weiter, denn das Einzige, das keinen Augenblick von mir wich, war die Angst, dass ich zu langsam sein könnte oder zu schwach. Ich hatte Angst, sie zu verlieren und dann selbst verloren zu sein.
    Es war ein weiter Weg. Ich hatte nicht bedacht, wie weit es sein würde, hatte mir keine Landkarte ansehen können. Das zeigte einen beklagenswerten Mangel an Selbstdisziplin. Mein Vater hätte nie eine solche Reise so schlecht vorbereitet angetreten. Ich musste weitermachen; ich konnte nicht zulassen, dass Großmutter diesen Kampf gewann. Die Prophezeiung sprach von einem großen Sieg; mein Vetter würde die Streitkräfte von Sevenwaters anführen und die Inseln zurückgewinnen. Und nun segelte Johnny dort unten, und ich musste ihm folgen, denn er würde mich brauchen. Ich spürte Wärme an den Federn meiner Brust; das Amulett war immer noch da, selbst in meiner Vogelgestalt, genauso wie Großmutter. Sie hatte die Augen wieder einmal geöffnet, und ihre Präsenz warf einen Schatten über mich. Nun gut, ich würde sie mit mir führen, bis zu dem Augenblick, wenn ich mich umdrehen und ihr stellen musste. Denn am Ende würde sie da sein; daran bestand kein Zweifel. Sie würde da sein, um zu beobachten und zu triumphieren. Ich musste weitermachen. Aber ich war müde, und der Wind wurde heftiger und die Luft kälter. Waren die Boote jetzt nicht schon weiter entfernt, nicht mehr direkt unter mir oder vielleicht nur ein wenig voraus, sondern drüben zu meiner Rechten, und ich war viel weiter vom Strand entfernt und wurde stetig nach Osten getragen? Ich bewegte meine Flügel und versuchte, die Stellen zu finden, wo die Luftströmungen mir halfen, und jedes Mal, wenn ich hinschaute, schienen die Boote kleiner und das Land hinter ihnen weiter weg zu sein. Würde dieser grausame Wind mich den ganzen Weg bis zum Strand von Alba tragen?
    Über mir bewegte sich ein Schatten, groß und schnell, ein Echo jener finsteren Präsenz, die Sibeals Pferd erschreckt und beinahe den Tod des Kindes bewirkt hatte. Angst, Gefahr. Mit ausgestreckten Flügeln schoss ich nach unten, dann flatterte ich wieder etwas höher, außer Reichweite. Der Schatten

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