Das Kind der Stürme
draußen und über die grob gemeißelten Stufen den ganzen Weg hinunter, dorthin, wo im Süden der Nadel große flache Felsen ihre Rücken übers Meer erhoben. Es würde Zeiten geben, zu denen das Wasser die rissigen Oberflächen dieser monumentalen Steine überspülte; selbst jetzt befanden sich in geheimen Ecken winzige Ritzen, alle mit einem zarten Anteil an Leben: zerbrechliche Meeresgeschöpfe, fasrige Anemonen, die sich anklammerten, und schillernde Fischlein, die nicht größer waren als eine Wimper. Aber die höher gelegenen Flächen waren trocken; hier ließ ich mich im Schneidersitz nieder und richtete den Blick auf das dunkler werdende Wasser vor mir. Ich spürte die Wärme, die noch in den alten Steinen lag, und die Umarmung der Erde, als sie meinem Körper das Leben der Sonne zurückgab.
Die Worte kamen schweigend, wie schon einmal zuvor. Dieser Felsen ist dein Vater; er hält dich in seiner Hand fest. Diese Wärme ist deine Mutter; sie gibt ihr Leben, ihre Seele, ihre Kraft. Bei aller Gelassenheit, die Zeit und Ort ermutigten, klopfte mein Herz doch heftig, als das Licht verging. Das Meer wurde dunkel, und ich sah keine Schwimmer in seiner kalten Umarmung, keine Söhne und Töchter von Manannán mac Lir, die in der Brandung spielten, als die Sonne im Westen tiefer sank, irgendwo hinter den grünen Hügeln von Kerry. Das Wasser flüsterte zu meinen Füßen, benetzte die alten Steine, schwappte, leckte, als könnte es die Vergangenheit wegspülen und alles neu und sauber machen. Eine große Flut. Eine große Tränenflut. Aber es konnte nie genug Tränen geben für das, was ich getan hatte. Falls tatsächlich Schätze an dieses Ufer gespült wurden, wer hätte sie weniger verdient gehabt als diese Zauberertochter, die auf ihrem unsicheren Weg so vielen guten Menschen Schaden zugefügt hatte? Wie konnte ich das je wieder gutmachen?
Abermals kamen Worte, geheime Worte, auf dem Flüstern des Westwinds, seufzend im tiefen Rauschen des Meeres. Dieser Atem ist ein Versprechen, ein Geschenk von Liebe und Loyalität. Die Gezeiten wenden sich, alles verändert sich und wird neu geboren. Die Erde leidet und erträgt, der Ozean zittert und erwartet die Erneuerung. Schöne Dinge vergehen, und Unschuld stirbt. Aber die Hoffnung überlebt so lange, wie der Wächter treu hoch oben in der Nadel ausharrt. Dies ist der Weg der Wahrheit.
Ich zitterte, als ich diese Worte hörte, blieb aber immer noch auf den Steinen sitzen, denn es kam mir vor, als könnte ich nichts anderes tun als warten und hoffen. Wenn die Hoffnung verging, dann blieb tatsächlich nichts mehr, gar nichts.
Draußen im dunkler werdenden Wasser bemerkte ich plötzlich eine Bewegung, die nicht nur vom Auf und Ab der Wellen oder der wirren Algen herrührte. Ja, es waren Geschöpfe mit schlanken Körpern und runden Köpfen, Seegeschöpfe, die dort spielten, tauchten, tanzten; ihre Gestalten die Essenz der Vielfalt des flüssigen Elements, das sie bewohnten. Ich kniff die Augen zusammen, spähte genauer hin. Ja, es waren Selkies; fünf oder sechs von ihnen kreisten ein Stück vom Ufer entfernt. Hin und wieder hoben sie die Köpfe aus dem Wasser, die dunkle Haut glitzerte im letzten Licht, dann richteten sie ihre großen, sehnsüchtigen Augen auf mich, die ich dort auf dem Felsen der Nadel saß. Sicher würden sie irgendwann näher kommen. Und wenn, dann wäre dies hier die geeignete Stelle, an der der Stein sachte zum Wasser hin abfiel und ein Selkie an Land kommen konnte und … und … aber sie kamen nicht, und nun sank die Sonne hinter dem Horizont in den Westen, und es war beinahe dunkel. Dies würde vielleicht meine Strafe dafür sein, dass ich gewagt hatte zu hoffen, mir könnte ein solch wunderbares Geschenk gewährt werden: Noch einmal den in den Armen zu halten, den ich am meisten liebte und für immer verloren geglaubt hatte. Dies war wohl meine Strafe dafür, dass ich gewagt hatte zu glauben, nur für einen einzigen Augenblick, dass die Göttin der Ansicht war, ich hätte solche Freundlichkeit verdient. Ich hauchte seinen Namen, als die Selkies sich wieder von der Insel abwandten und davonschwammen, bis ich sie im Zwielicht kaum mehr sehen konnte. Darragh, flüsterte ich wie ein dummes, liebeskrankes Mädchen. O bitte. O bitte.
»Du musst dich schon ein bisschen mehr anstrengen«, erklärte eine trockene Stimme links von mir. Ich zuckte zusammen und schaute nach unten. Diesmal hatte sie sich nicht einmal die Zeit genommen, sich zu verändern.
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