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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Abwärts. Halt. Jetzt langsamer. Wie konnten sie es wagen? Warum spielten sie so mit mir?
    Die Kugel zerbrach nicht am Boden. Sie fiel und verharrte und blieb nun eine Handspanne über der felsigen Oberfläche hängen. Aber ich hatte den Bann nicht gesprochen. Die glitzernde Kugel schimmerte im Licht des roten Haars des Flammenden. Er bückte sich und griff nach ihr.
    »Siehst du?«, fragte er leise. »Du bist nicht die Einzige, die das kann.«
    »Krabben, Möwen, Schiffbrüchige – das glaube ich nicht«, sagte die Herrin des Waldes. »Ich denke, wir können einen Besseren finden.«
    Mein Herz machte einen Sprung. Voller Angst, dass ich sie falsch verstanden haben könnte, flüsterte ich: »Wie meint ihr das?«
    »Was für eine Art Vater würde ein Kind brauchen, wenn es an einem derartig isolierten Ort aufwächst?«, sagte sie nachdenklich. »Ein solches Kind müsste vergnügt sein und erfindungsreich und weise. Es müsste klettern und balancieren können, es müsste Achtung vor den wilden Tieren haben, denn sie umgeben uns in diesem meerumkreisten Reich. Es wäre nützlich, wenn ihr Vater ihr das Schwimmen beibringen könnte, denn ihre Mutter ist dazu nicht im Stande. Was sonst noch, meinst du?«
    »Was sagt ihr da?« Meine Stimme war heiser vor Qual. Ich zitterte wie eine Birke im Wind. Ich fürchtete, dass sie mich nur folterten, es konnte nicht wahr sein! Wie war es möglich? Die Klippen waren hoch, die Felsen spitz, der Ozean fasste zu wie eine eisige Hand. Und dennoch – und dennoch stieg die Hoffnung in mir auf wie die Säfte im Frühjahr, süß und kräftig. »Ein wenig Musik, damit es nicht so langweilig wird«, sagte der Herr von Licht und Luft. »Ein wenig Lachen, ein wenig Freundlichkeit, Geduld und einen Grund, weiterzumachen. Das wäre wahrscheinlich Liebe.«
    »Es kam uns so vor, als gäbe es nur eine Möglichkeit«, sagte das Wasserwesen.
    »Ihr meint – ihr meint, er lebt noch?« Ich wagte kaum, die Worte auszusprechen, fürchtete die Antwort. Ich befürchtete, das Herz würde mir aus der Brust springen, denn es dröhnte wie eine große Trommel. »Ihr habt ihn gerettet? Aber wie ist das möglich? Wie konnte er im Meer überleben, nach einem solchen Sprung? Und wo ist er jetzt? Lügt mich nicht an, o bitte –«
    »Still, Kind. Wir müssen bald gehen. Das hier ist keine einfache Angelegenheit, denn es war nicht leicht, ihn aus den Klauen des Todes zu reißen und zu erhalten.« Die Herrin des Waldes war nun ernst. Es lag ein Schatten auf ihrer Miene. »Es war notwendig, das Muster der Dinge ein wenig zu verändern, um es überhaupt möglich zu machen, und er ist nicht hier, noch nicht. Er wird nicht gleich zu dir kommen, denn es gibt eine weitere Art von Prüfung, eine, die du dir selbst auferlegt hast.«
    »Was für eine Prüfung?« Mir war wieder kalt, und ich wusste nicht, was ihre Worte zu bedeuten hatten. »Was muss ich tun?«
    Sie seufzte. »Er ist dir bis zum Ende der Welt gefolgt. Alles, was er liebte, hat er für dich aufgegeben. Du zitterst nun vor Freude, dass er lebt, und dennoch hast du ihn wieder und wieder weggeschickt. Vielleicht einmal zu oft. Vielleicht wird er diesmal nicht zurückkehren, denn er weiß, dass er eine weitere Verbannung nicht ertragen kann.«
    Die vier begannen zu verblassen, waren schon fast verschwunden. Ihre Gestalten wurden transparent, bis ich außer ihren Augen kaum mehr etwas sehen konnte. Ihre Blicke waren kummervoll und stolz und nicht ohne Mitgefühl.
    »Sagt es mir! O bitte, bitte, sagt mir, was ich tun muss!«
    Die Herrin des Waldes war die Letzte, die verschwand. Ihre Stimme klang nun so ätherisch wie das Seufzen einer Brise über den Blättern des großen Waldes, ein leichtes Lebewohl-Rascheln.
    »Du musst hinunter zum Meer gehen und auf ihn warten«, sagte sie. »Es wird nur eine Chance geben. Wenn du sie verschwendest, wirst du ihn für immer verlieren. Du musst dein Herz öffnen und die Wahrheit sagen. Nein, jetzt noch nicht«, fügte sie hinzu, als ich auf den Eingang zu rannte. »Erst in der Abenddämmerung. Du musst warten, bis die Gezeiten sich ändern. Erst dann kannst du ihn nach Hause bringen.« Ihre Schattengestalt verschwamm und verblasste ins Nichts.
    ***
    Als das klare Blau des Spätnachmittags langsam dunkler wurde, als hätte man einen Pinsel über den weiten Himmel gezogen, um ihm die Farbe von getrocknetem Lavendel zu verleihen, die Farbe eines Taubenflügels, die Farbe von Flechten auf uraltem Stein, ging ich barfuß nach

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