Das Kind der Stürme
einen bestimmten Ort, einen Ablauf konzentrieren. Finde ein Muster und schließe den Rest davon aus, bis du es brauchst. Hier verlaufen die Fäden aller Existenzen, Fainne. Hier kannst du sehen, was war: die endlose Bewegung der Sterne, die Stimmen der uralten Felsen, die Geheimnisse in den Tiefen des Meeres. Du kannst die Geschichten unseres Volkes und deines Volkes und die der anderen lesen. Du kannst sehen, was ist. In diesem Augenblick verlassen dein Vater und die anderen das Ufer der Größeren Insel. In diesem Augenblick machen sich auch die Briten auf den Weg nach Hause und lassen ein Friedensversprechen zurück. Der Kapitän des Schiffs, das sie trägt, ist ein Vetter, den du nie kennen gelernt hast, Fintan, Erbe von Harrowfield. Diesen Leuten steht eine gute Zeit bevor; eine kurze, gute Zeit.«
»Du wirst diese Dinge sehen«, erklärte die Herrin, »und man wird dir zeigen, was sein wird oder was sein könnte. Darin liegt eine Gefahr, die du sicher verstehst. Du bist für diese Tätigkeit auserwählt worden, Fainne, wegen dem, was du bist. Für dich gibt es keine Grenze, nichts hält dich davor zurück, die höchsten Ebenen deines Handwerks zu erreichen, wenn es das ist, was du willst. Sie, die dir etwas anderes sagte, hat dich angelogen, so wie sie schon deinen Vater angelogen hat. Selbst damals, selbst als du noch ein Kind warst, spürte sie die Macht in dir, eine Macht, die am Ende viel größer ist als ihre eigene. Ihr Fehler war zu glauben, dass sie dich ihrem Willen unterwerfen konnte. Sie hat sowohl Ciaráns Kraft unterschätzt als auch die deine. Es ist ein Paradox, denn ohne ihr Blut, das Blut der Ausgestoßenen, wärst du nicht stark genug für diese Aufgabe gewesen. Lady Oonagh war eine von uns. Die von ihrer Art sind unsere Schatten, unsere Gegenstücke, die an unserer Seite wandeln und das Gleichgewicht aufrechterhalten. Eins kann ohne das andere nicht existieren, und dennoch liegen wir ewig miteinander im Widerstreit. Also hat sie dich stark gemacht. Für jemanden, der so jung ist, hast du ein tiefes Verständnis der Dinge. Was du noch nicht gemeistert hast, werden wir dich lehren. O ja«, sie zog die Brauen hoch, als sie meine Überraschung bemerkte. »Wir werden von Zeit zu Zeit vorbeikommen, zumindest bis du dich hier eingewöhnt hast. Und nun schau wieder hin; wähle ein einzelnes Bild und konzentriere dich darauf. Lass es für dich arbeiten. Schieb den Rest weg.«
Ich schaute ins Wasser und dachte an die kleine Sibeal und ihre vollkommene, lautlose Konzentration. Sie war erst acht Jahre alt. Ich würde vieles nachholen müssen. In dem chaotischen Wirbel von Bildern gab es eines, das mich anzog. Drei Kinder lagen auf Steinen an einem See – dem See von Sevenwaters, nicht weit von der Festung entfernt. Es war Sommer, und zwei von ihnen fuhren mit den Fingern durchs Wasser und beobachteten die Fische. Das Dritte, ein Junge mit wirrem, dunklem Haar, lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, und starrte in den Himmel hinauf. Der Junge sah ein wenig Coll und ein wenig Onkel Sean ähnlich, aber es gab nur einen Mann, den ich kannte, der diese klaren, tiefen, weisen Augen hatte. Zweifellos hatte ich ein Bild vor mir, das lange Zeit zurücklag, und dieses Kind war Finbar, der über das Reich hinausschaute, in dem sein kleiner Bruder und seine Schwester spielten, und vielleicht sein seltsames künftiges Schicksal erblickte. Dieses winzige Bild veränderte sich und blieb dennoch das gleiche. Die Felsen, der See, Enten. Die drei Kinder, Söhne und Töchter von Sevenwaters. Es war immer noch Sommer, ein weiterer Sommer, und die Kinder waren andere. Es gab Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen mit dunklem Haar, die die Hände ausstreckten, um die Fische zu necken, die dort im Ried schwammen, und ein weiteres Mädchen, schön wie der Herbst mit ihren großen blauen Augen und ihrem rotgoldenen Haar. Das kleine schwarzhaarige Mädchen, das meine Tante Liadan war, und Sean versetzten ihr einen Schubs, und meine Mutter lachte. Ihre wunderschönen Züge leuchteten vor Freude. Ich wollte dichter zum Wasser, sehnte mich nach mehr, sehnte mich danach, dieses Kind zu sehen, das sie einmal gewesen war, bevor man ihr die Freude genommen hatte. Aber das Bild verschwamm und veränderte sich wieder, und nun sah ich Sibeal, die im Schneidersitz auf dem gleichen Stein am See saß, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Augen schienen alles und nichts zu sehen. Sie sah mich direkt an und lächelte; und dann war das
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