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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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ins Feuer starrte und das winzige Abbild meines Vaters sah, seine ausgeprägten Züge verzerrt, sein Körper vor Schmerzen verkrümmt, seine Brust geschüttelt von einem Husten, der ihn schier zu zerreißen schien. Blut tropfte aus seinem keuchenden Mund, seine Hände krallten blind in die Luft, seine dunklen Augen sahen aus wie die eines Wahnsinnigen. Mir wurde eiskalt. Ich hörte mich flüstern: »O nein, nein, nein.« Vielleicht hätte ich sie angefleht, aber mir fehlte die Kraft, Worte zu finden.
    »O doch«, sagte Großmutter, nachdem das Glühen vergangen und ich nach hinten gesackt war und auf dem Teppich vor der Feuerstelle hockte. »Mir ist es gleich, ob das da mein Sohn ist oder ein Fremder, Fainne. Mich interessiert nur die Aufgabe, die vor uns liegt.«
    »V-Vater.« Ich stotterte. »Ist er …«
    »Was du gesehen hast, ist nicht heute, es ist die Zukunft. Eine mögliche Zukunft. Wenn du ein anderes Bild haben willst, dann musst du dafür sorgen, indem du auf meine Anweisungen hörst und tust, was ich von dir verlange. Widersetze dich mir, und Ciarán wird langsam und qualvoll sterben. Du wirst tun, was ich dir sage, und du wirst darüber den Mund halten. Ich hoffe, du glaubst mir, Kind. Du wärst ein sehr dummes Mädchen, wenn du das nicht tun würdest. Glaubst du mir, Fainne?«
    »Ja, Großmutter«, flüsterte ich.
    Die warmen Tage gingen vorüber, und die Stimmen der Kinder trieben auf dem Sommerwind herein, drangen lachend und kreischend bis in die schattigen inneren Kammern der Honigwabe. Die Fischerboote segelten im Morgengrauen aus der Bucht und kehrten in der Abenddämmerung zurück, beladen mit ihrem glitzernden Fang. Frauen flickten Netze am Hafen, und braun gebrannte Jungen trainierten Pferde am Strand, ließen sie über aufgehäuften Seetang springen. Ich lag wach, Nacht um Nacht, und lauschte der Klage des Dudelsacks. Obwohl Fiacha kam und ging, gab es keine Nachricht von Vater, und ich begann zu fürchten, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Das tat schrecklich weh; und dennoch wollte ich nicht, dass er sah, was aus mir wurde, wollte ihn nicht zum Zeugen meines Missbrauchs des Handwerks werden lassen, und so war seine Abwesenheit auf gewisse Weise eine Erleichterung. Ich hoffte, er würde nie die Wahrheit erfahren – dass er, indem er mich wegschickte, sein einziges Kind der unmöglichsten und wahnwitzigsten Sache geopfert hatte, bei der sein eigenes Leben der Preis für mein Versagen sein würde. Was Großmutter anging: Für sie war ich nichts weiter als eine gut geschliffene Waffe, ein Werkzeug, das herzustellen viele Jahre gedauert hatte und das sie nun zu einem solch gewaltigen Zweck einsetzen würde, dass ich es immer noch kaum begreifen konnte.
    Der Sommer war beinahe zu Ende. Großmutter hatte gewisse praktische Vorbereitungen getroffen. In meiner kleinen Truhe befanden sich nun zwei etwas bessere Kleider als meine übliche Arbeitskleidung und die praktische Schürze. Ich hatte ein neues Paar Schuhe, die ich im Haus tragen konnte, ebenso wie neue Stiefel für draußen. Ein Mann hatte sie besonders angefertigt und leise vor sich hin gemurmelt, als er an meinem verformten Fuß Maß nahm. Es war schrecklich gewesen. Ich hätte gerne die Finger des Schuhmachers mit Brandblasen überzogen, aber ich brauchte die Schuhe.
    Ich hatte Großmutter nicht gefragt, wie ich nach Sevenwaters gelangen sollte. Es war ein langer Weg, das wusste ich, weil Darragh es mir erzählt hatte – man musste Erin beinahe vollständig durchqueren. Aber ich hatte keine Ahnung, wie viele Monde eine solche Reise dauern würde. Vielleicht würde Großmutter einen Transportzauber wirken und mich in einem einzigen Augenblick mitsamt meinem Gepäck nach Norden schaffen. Am Ende brauchte ich nicht zu fragen, denn Großmutter kündigte einfach eines Tages an, dass es Zeit war aufzubrechen.
    »Du wirst auf Dan Walkers Wagen nach Norden reisen«, sagte sie und überprüfte den Riemen, mit dem meine Truhe gesichert war. »Sehr praktisch, wenn auch nicht sonderlich stilvoll.«
    »Praktisch?«, fragte ich verzweifelt. »Was soll daran praktisch sein.«
    »Du wirst erheblich weniger Aufmerksamkeit erregen, wenn du mit dem fahrenden Volk auftauchst«, sagte sie trocken, »als wenn du plötzlich in einem Funkenregen in der Halle deines Onkels erscheinst. So wird dich niemand bemerken. Was ist eine mehr in einer großen Gruppe von Menschen? Du bist doch nicht nervös, oder? Sicher habe ich dir das inzwischen ausgetrieben.

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