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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Knochen und Federn. Ich benutzte beide Hände, um den Vogel mehr oder weniger aufrecht auf den Boden vor mich hinzusetzen und dort zu halten.
    »Bäume«, sagte ich. »Eichen. Dort – sie warten nur auf dich. Flieg. Benutz diese Flügel. Weg mit dir.« Ich nahm die Hände weg. Der Vogel stand zitternd da. Zumindest hatte er aufgehört, von einem Fuß auf den anderen zu treten. »Mach schon«, sagte ich und schubste ein winziges bisschen.
    Er drehte den Kopf um und sah mich an.
    »Bei den Mächten!«, flüsterte ich gereizt. »Was soll ich denn mit dir machen? Ich kann dich nicht behalten, ich muss gehen, und außerdem –«
    Der Vogel starrte mich mit seinen großen, runden, wahnsinnigen Augen an.
    »Habe ich denn nicht schon genug, worum ich mir Gedanken machen muss?«, fragte ich. »Na gut, dann komm.« Das jämmerliche Bündel Federn hätte keine tief greifende Veränderung überlebt, das wusste ich aus bitterer Erfahrung. Mehr als eine Ratte, mehr als ein Käfer waren Großmutters Streben nach Perfektion zum Opfer gefallen. Aber eine geringfügige Änderung war vielleicht möglich. Und mein Kleid hatte tiefe Taschen, denn ein Mädchen vom fahrenden Volk musste vielleicht Nadel und Faden oder ein Messer oder ein zweites Kopftuch dabeihaben. Ich fuhr mit der Hand über die zerzausten Federn. »So«, sagte ich und nahm den Vogel in die Hand. Nun hatte er etwa die Größe einer Maus: die Krallen waren wie die kleinen Dornen einer wilden Rose, die Augen winzig, dunkel und ernst. Er blinzelte.
    »Ich hoffe, du hast keinen Hunger«, sagte ich leise. »Ich hoffe, du verstehst, was ich vorhabe. Und jetzt halt still und bleib ganz ruhig!« Ich steckte den kleinen Vogel in die Tasche und kam wieder hinter dem Wagen hervor.
    »Fainne!«, schrie Roisin, bevor ich auch nur fünf Schritte gemacht hatte. »Wo warst du denn? Mam hat fast den Verstand verloren, weil wir dich nirgendwo finden konnten. Wo warst du denn?«
    »Nicht weit«, sagte ich. »Sie hätte sich keine Sorgen machen sollen.«
    »Darragh war anderer Meinung.«
    Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. »Und was hat Darragh gesagt?«, fragte ich sie, für den Augenblick aus meiner Schüchternheit aufgeschreckt.
    Roisin grinste. »Er meinte, du würdest schon eine Gelegenheit finden, Ärger zu machen.«
    »Unsinn«, sagte ich. »Wie du siehst, ist alles in bester Ordnung. Wo gehen wir jetzt hin?«
    »Wir verkaufen die Körbe. Und wenn sie alle weg sind, können wir uns umsehen. Aber nicht allein. Das wird Mam nicht erlauben.« Sie warf mir einen Seitenblick zu.
    »Tut mir Leid«, gab ich nach. »Ich wusste es nicht.«
    »Mhm«, sagte Roisin. Sie klang genau wie ihr Bruder.
    Es war Tagesgespräch. Ich saß da und sah zu, wie Peg und Molly und Roisin und die anderen Mädchen um ihre Waren feilschten und ihre Gewinne einsteckten, und die Geschichte darüber, was an diesem Morgen geschehen war, wurde immer kunstvoller. Wir hatten gesehen, wie der Großmeister und sein Helfer den Wagen beluden und den Markt verließen, nicht ohne dabei aufgehalten zu werden, denn es gab viele unzufriedene Kunden, die Erklärungen verlangten. Schließlich konnten sie fliehen, und das allein war ein weiterer Grund für überraschte Spekulationen, denn sie waren so manches Jahr auf diesem Markt gewesen, sagte Peg. Die Leute schworen auf die Mittelchen des Großmeisters. Was sie selbst anging, hatte sie nie eingesehen, wieso sie so etwas kaufen sollte. Was man nicht selbst erreichen konnte, war eben unmöglich. Das sollten die Leute akzeptieren und nicht versuchen so zu tun, als wäre es anders. Der Meister lockte Menschenmengen an, das war das einzig Gute, was sich über ihn sagen ließ. Wenn man seinen Stand nahe dem Wagen des Meisters aufschlug, konnte man seine Waren gut loswerden.
    Ich hielt mich heraus. Roisin fragte, was ich gesehen hatte, und ich erklärte, ich hätte nicht viel sehen können, weil größere Leute vor mir gestanden hatten. Es hatte ein Durcheinander gegeben, und ein paar Vögel waren davongeflogen. Das war alles. Aber den ganzen Morgen redeten die Leute davon. Sie erklärten, die Magie sei aus irgendeinem Grund schief gegangen. Vielleicht ein Fluch oder so etwas. Die Tiere hätten den Verstand verloren, und eine Schlange hätte den Meister beinahe umgebracht. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Und eine Frau hätte dem Meister eine Standpauke gehalten. Nein, mit der sollte man sich lieber nicht anlegen. Sie war nur eine Bauersfrau gewesen, aber sie war recht grob

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