Das Kind des Schattens
einem Sessel am Podium. Kim war überwältigt vor Erleichterung; allerdings nur kurz, denn als Loren sich seinem Sessel näherte, sah sie, wie bewaffnete Wächter sich auf beide Seiten von ihm stellten.
»Komm«, gebot ihre eigene Führerin, die in der kurzen Pause ihre kühle Gelassenheit vollkommen wiedergewonnen hatte. »Ich muss dich ebenfalls zu diesem Platz führen.«
Und so strich Kim wieder einmal ihre ungehorsame Haarsträhne zurück und folgte ihr, so königlich und aufrecht sie nur konnte, in die Versammlungshalle. Sie achtete nicht auf das neuerliche Murmeln, das ihr Erscheinen begleitete, sondern ging, ohne auch nur ihren Kopf zu wenden, den langen, breiten Mittelgang zwischen den Sitzreihen hinab, blieb dann vor Loren stehen und vollführte den ersten Hof knicks ihres Lebens.
Genauso ernst verbeugte auch er sich vor ihr, führte eine ihrer Hände an seine Lippen und küsste sie. Sie dachte an Diarmuid und Jennifer, als sie in jener Nacht in Fionavar angekommen waren. Es schien ein ganzes Leben her zu sein. Sie drückte Lorens Hand und ließ ihren Blick – gebieterisch, wie sie innig hoffte – über die versammelten Zwerge hingleiten.
Und dabei bemerkte sie etwas. Sie wandte sich zu Loren zurück und fragte leise: »Fast alles Frauen. Warum?«
»Frauen und ältere Männer. Und die Mitglieder der Versammlung, die auch bald hierher kommen werden. O Kim, meine Liebe, warum, glaubst du denn?« Seine Augen waren so freundlich, wie sie immer gewesen waren, doch schienen sie in ihren Tiefen ein schweres Gewicht von Sorgen und Kummer zu enthalten.
»Schweigen!« schnappte einer der Wächter. Aber es klang nicht grob, sondern eher geschäftlich.
Es war ohnehin nicht wichtig. Aus Lorens Gesichtsausdruck erriet sie, was sie wissen musste. Und mit diesem Wissen musste auch sie das Gewicht der Sorge tragen.
Frauen, alte Männer und die Ratsherrn der Ratsversammlung. Die jungen, kräftigen Männer aber, die Krieger, sie waren weg. Im Krieg natürlich.
Man musste ihr nicht sagen, auf welcher Seite sie kämpfen würden, wenn Kaen sie geschickt hatte.
Und in diesem Augenblick kam Kaen selbst von dem äußeren Ende des Podiums zur Mitte, und so sah sie nun zum ersten Mal den Menschen, der das schwärzeste Böse ihrer Zeit entfesselt hatte. Ruhig, ohne irgendeinen Stolz, irgendeinen Hochmut zu zeigen, ging er zum Steintisch hinüber und blieb an einer Seite stehen. Sein dickes Haar war rabenschwarz, sein Bart kurz geschnitten. Er war schlanker als Matt oder Brock und nicht so kräftig, nur seine Hände waren die eines Bildhauers: Sie waren groß, tüchtig und sehr stark. Eine von ihnen legte er auf den Tisch, achtete aber darauf, die Krone nicht zu berühren. Er war einfach und unauffällig in Braun gekleidet, und seine Augen verrieten keine Spur von Wahnsinn oder Täuschung. Sie waren meditativ ruhig und fast traurig.
Nun erklangen wieder Schritte auf dem Podium. Kim wandte ihre Augen von Kaen ab und beobachtete, wie Matt Sören von der näher gelegenen Seite des Podiums nach vorne trat. Sie erwartete Geräusche, Murmeln, irgendeine Reaktion. Aber der Zwerg, den sie kannte und liebte, und der, wie sie sah, unverändert war, was auch immer geschehen mochte, ging zu der Kaen entgegengesetzten Seite des Tisches, und als er dort anlangte, hörte man in der Weite von Seithrs Halle nicht den leisesten Laut.
In der Tiefe dieses Schweigens wartete Matt und ließ einen Blick aus seinen dunklen Augen über die versammelten Zwerge gleiten. Sie bemerkte, wie die Wächter hinter ihr nervös von einem Fuß auf den anderen traten. Dann nahm Matt ohne irgendwelche Umstände die Diamantkrone und setzte sie sich auf den Kopf. Es war, wie wenn ein Baum in einem trockenen Wald vom Blitz getroffen war, so explosiv war die Reaktion. Ihr Herz sprang, als sie hörte, wie ein tosender Ausbruch des Schreckens die Halle in Brand steckte. In diesem Gewitter empfand sie Ärger und Verwirrung und versuchte, einen Anflug von Freude darin zu entdecken, und es schien ihr zu gelingen. Trotzdem war ihr Blick instinktiv zu Kaen gewandert, als Matt seinen Anspruch auf die Krone erhoben hatte.
Kaens Mund verzog sich zu einem schlauen und zynischen Lächeln, das unbesorgt, wenn nicht sogar amüsiert schien. Aber seine Augen hatten ihn verraten, denn in ihnen hatte Kim einen Moment lang bleiche, bösartige Gehässigkeit gesehen. Sie las Mord in ihnen, und es schnitt sich ihr ins Herz.
Machtlos, gefangen, von einer Furcht erfüllt, die sie wie
Weitere Kostenlose Bücher