Das Kind des Schattens
angenommen … mehr noch in der ganzen Ebene und in allen Welten, wenn es dazu käme.
Aber er wandte sich ihrer Mutter zu, wandte sich dem Platz zu, wo er sie sich schräg vor sich hinknien hörte. »Kraft der Ebene«, fragte er achtungsvoll, »darf ich in deine Gedanken eindringen?«
Sie lehnte sich nach vorne und erhob seine Hände, um sie über die Knochen ihres Gesichtes gleiten zu lassen. Die Berührung führte ihn in ihr Bewusstsein, wo er Beunruhigung, die Bürde der Sorgen, die Last der Schlaflosigkeit entdeckte, aber nicht einen Schatten von Angst. Und dies setzte ihn, noch während er über ihr Gesicht strich, in Erstaunen.
Kurzzeitig wurde seine Berührung zu einer Liebkosung. »Ivor hat Glück mit dir gehabt, du strahlende Seele. Wir alle haben Glück, und mehr, als wir verdienen.«
Er kannte Leith seit ihrer Geburt, hatte zugesehen, wie sie zur Frau wurde, und als sie sich mit Ivor dan Banor vermählte, hatte er sich gefreut und gefeiert. In jenen längst vergangenen Tagen war ihm zum ersten Mal eine Art von strahlender Helligkeit in ihr aufgefallen. Seither war sie immer in ihr gewesen und wurde sogar noch stärker, als ihre Kinder geboren wurden. Gereint wusste, was es war: eine tiefe, leuchtende Liebe, deren Strahlkraft sie selten nach außen dringen ließ. Leith war eine zutiefst in sich gekehrte Person, die sich niemals offen darstellte und ihre Persönlichkeit und ihr inneres Wesen nie anderen anvertraute. Ihr ganzes Leben war sie kalt und unnachgiebig genannt worden. Gereint wusste es besser. Widerstrebend zog er seine Hände zurück und spürte dabei, dass das Echo des Krieges ihn wieder umfing.
Leith fragte unsicher: »Hast du irgend etwas gesehen, Schamane? Gibt es irgend etwas, was du mir sagen kannst?«
»Ich bin gerade dabei zu schauen«, beschied er ihr ruhig. »Setzt euch, ihr beiden, und ich werde euch sagen, was ich sagen kann.«
Wieder schickte er sein Bewusstsein aus und suchte nach Öffnungen der Kraft im Gewebe von Zeit und Raum. Aber er war weit entfernt, nicht mehr jung und erst kürzlich von der schlimmsten Reise seines Lebens zurückgekehrt. Nichts war klar, außer diesem Echo: Es war die Vorahnung eines Höhepunktes, der nun herannahte. Der Krieg ging dem Ende zu, oder aber alles würde für immer vorbei sein.
Aber das behielt er für sich, es wäre unnötig grausam gewesen. Stattdessen nahm er das Mittagessen ein, das sie ihm gebracht hatten … trotz allem war er schließlich hungrig … und ließ sich erzählen, wie Leith die Vorräte in dem überfüllten Lager verteilt hatte. Frauen, Kinder und Alte waren dort, und acht blinde, nutzlose Schamanen.
Den ganzen Tag und auch den nächsten saß Gereint auf der Matte in seinem dunklen Haus und bemühte sich, sooft seine schwindende Kraft es erlaubte, irgend etwas deutlich zu sehen, irgendeine Rolle zu finden, die er spielen konnte. Die Vorahnungen verdichteten sich in ihm. Aber es vergingen beide Tage, bevor er die Berührung des Gottes empfand, bevor er Cernans Gabe der Prophetie empfangen konnte. Mit dieser Stimme aber, mit diesem Gesicht befiel ihn eine solche Angst, wie er sie nie zuvor gekannt hatte, nicht einmal draußen über den Wogen. Was jetzt kommen würde, war neu und schrecklich. Umso mehr, als es nichts mit ihm zu tun hatte, der nach all seinen Jahren auf eine lange Lebenserfahrung zurückgreifen konnte. Er hatte dabei keinen Preis zu bezahlen, und es gab nichts, was er hierbei hätte unternehmen können. Mit Traurigkeit im Herzen also erhob Gereint zwei Tage später seine Stimme zu einer Aufforderung: Er rief nach Davor, damit er zu ihm komme.
Über die Ebene hin zog die Armee des Lichtes in den Krieg. Sie hatten Celidon, den Adein, den grünen Totenhügel, den Ceinwen errichtet hatte, hinter sich gelassen und ritten nun gegen Norden, die weiße Herrlichkeit des Berges Rangat ragte vor ihnen auf und erfüllte den blauen, von Wolken übersäten Sommerhimmel.
Alle waren sie beritten, mit Ausnahme einiger Männer aus Cathal, die am äußeren Rand des Heeres in ihren Sichelwagen dahinrasten. Als das Rufglas in Brennin aufgeflammt war, hatte Aileron angesichts ihrer Zeitnot keine Fußsoldaten zugelassen. Außerdem hatte er während des langen, unnatürlichen Winters bereits seine Pläne für eine Situation dieser Art ausgearbeitet: Die Pferde waren schon bereitgestellt, und alle Männer des Heeres von Brennin konnten reiten. Ebenso war es auch bei den Männern und Frauen der Lios Alfar aus Daniloth, und
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