Das Kind des Schattens
geringe Übertretung? Wie kannst du es wagen, ein zweites Mal in einem Wortkampf zu sprechen! Was ist aus uns geworden, dass nicht einmal die ältesten Regeln unseres Volkes beachtet werden? Und das geht sogar so weit« … er drehte sich ruckartig um und starrte auf Kimberly … »dass ein Gast sich in einen Wortkampf in Seithrs Halle einmischt.«
Das war zuviel! Kim fühlte, wie ihre aufgestaute Wut aufwallte, sie setzte zu einer ätzenden Erwiderung an und spürte bereits Lorens strafenden Griff auf ihrem Arm. Sie schloss ihren Mund, ohne ein Wort zu sagen, aber ihre Hände krampften sich in den Taschen ihres Gewandes zu weißen Fäusten.
Dann löste sie sie wieder, denn Niachs Wut schien sich in dieser kurzen, leidenschaftlichen Rede erschöpft zu haben. Er schien wieder in sich zusammenzufallen, war kein wütender Patriarch mehr, sondern nur mehr ein alter Mann in unruhigen Zeiten, der jetzt mit einer großen Verantwortung konfrontiert war.
Er gab ruhiger, fast entschuldigend zu bedenken: »Vielleicht sind die Regeln, die für all unsere Könige von Seithr bis March gültig und klar waren, nicht mehr ein und alles. Vielleicht mussten die Zwerge niemals so wolkenschwere und wirre Zeiten wie jetzt durchleben. Vielleicht ist das Verlangen nach Klarheit nur die Sehnsucht eines alten Mannes.«
Kim sah, dass Matt verneinend den Kopf schüttelte. Niach bemerkte es nicht. Er blickte die hohe, nur zur Hälfte gefüllte Halle empor. »Vielleicht«, wiederholte er gedankenvoll. »Aber selbst wenn das zutrifft, ist dieser Wortkampf beendet, und jetzt hat die Versammlung darüber zu urteilen. Wir werden uns zurückziehen. Ihr alle werdet hier bleiben …«, mit diesen rituellen Worten wurde seine Stimme wieder stärker … »bis wir zurückgekehrt sind, um den Willen der Zwergenversammlung kund zu tun. Wir danken für den Ratschluss eures Schweigens, es ist gehört worden, und wir werden ihm Stimme verleihen.«
Er wandte sich um, auch die anderen schwarzgekleideten Mitglieder der Versammlung erhoben sich, und alle zusammen verließen das Podium. Matt und Kaen blieben auf beiden Seiten des Tisches stehen, auf dem eine strahlende Krone, ein strahlendes Zepter und ein schwarzes, scharfrandiges Bruchstück des Zauberkessels von Kath Meigol lagen.
Kim wurde sich bewusst, dass Lorens Hand noch immer ihren Arm drückte. Im selben Augenblick schien auch er es zu bemerken. »Es tut mir leid«, murmelte er und lockerte seinen Griff, ohne ganz von ihr abzulassen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich stand kurz davor, etwas Dummes zu sagen.«
Diesmal waren die Wächter wohlweislich bemüht, Lorens Geduld nicht auf die Probe zu stellen: Sie griffen nicht ein. Aber in der ganzen Halle erhoben sich nun die Stimmen der Zwerge, das Band des Schweigens, das sie während des Wortkampfes zurückgehalten hatte, löste sich, und sie begannen, lebhaft die Geschehnisse zu diskutieren. Nur Matt und Kaen, die bewegungslos auf dem Podium standen und sich nicht anblickten, schwiegen. »Gar nicht dumm«, anerkannte Loren ruhig. »Du bist ein Risiko eingegangen, als du sprachst, aber sie mussten hören, was du zu tun in der Lage bist.«
Kim blickte mit plötzlicher Bestürzung zu ihm hinüber. Seine Augen verengten sich, als er es sah.
»Was ist los?« fragte er ganz leise, so dass die Wächter es nicht verstehen konnten.
Kim schwieg. Dann zog sie lediglich ihre rechte Hand aus der Tasche, so dass er deutlich sehen konnte, was ihm zuvor nicht aufgefallen war: die schreckliche Abwesenheit des Feuers, der Baelrath war weg.
Er blickte auf ihre Hand und schloss dann seine Augen. »Wann?« fragte Loren und seine Stimme war dünn und gedehnt.
»Als wir in den Hinterhalt gerieten. Ich habe noch gefühlt, wie er mir weggenommen wurde. Heute morgen bin ich ohne ihn aufgewacht.«
Loren öffnete seine Augen und blickte auf das Podium, auf Kaen. »Ich frage mich«, murmelte er, »ich frage mich, wie er es wissen konnte.«
Kim zuckte die Schultern. In diesem Augenblick schien das kaum von Bedeutung zu sein. Wie die Dinge jetzt standen, schien das einzig Wichtige zu sein, dass Kaen, mit dem, was er den Zwergen gesagt hatte, durchaus im Recht war. Wenn sich das Heer jetzt bereits westlich der Berge befand, dann konnten sie nichts mehr tun, sie daran zu hindern, unter den Legionen der Finsternis zu kämpfen.
Loren schien ihre Gedanken zu lesen, oder es waren auch seine eigenen. Er überlegte: »Es ist noch nicht alles vorbei. Zum Teil auch aufgrund dessen,
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