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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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»Er hat sie gesehen, Dhira, er hat zweimal mit Ceinwen gesprochen und ein Geschenk von ihr erhalten, du nicht, ich ebenso wenig. Er hat ein Recht und mehr als ein Recht zu sprechen.«
    Dhira dachte darüber nach und nickte dann. »Ja, das ist richtig«, gab er zu Daves Überraschung ruhig zu. »Ich möchte zurücknehmen, was ich zuletzt sagte, Davor. Versuche jedoch zu verstehen: Wenn ich davon spreche, den Hügel zu pflegen, dann ist dies eine Geste der Dankbarkeit und Ehrerbietung. Es geht nicht darum, die Göttin zu irgend etwas zu veranlassen, wir wollen ihr nur danken. Ist das etwa unpassend?«
    Nach diesen Worten bereute Dave sehr, dass er Dhira getadelt hatte. »Verzeih mir, Häuptling«, beeilte er sich zu bitten. »Natürlich ist es passend. Nur ich bin hastig und ungeduldig, und …«
    »Und nicht ohne Grund!« murrte Mabon von Rhoden und erhob sich auf seinem Strohlager. »Wir haben Entscheidungen zu fällen und sollten das endlich tun!«
    Ein silbriges Lachen rann durch den Raum. »Ich habe schon davon gehört«, ließ sich Ra-Tenniel amüsiert vernehmen, »dass die Menschheit es immer eilig hat. Aber jetzt höre ich es mit eigenen Ohren.« Seine Stimme sank langsam ab; alle lauschten sie, allein schon seine Gegenwart versetzte sie in eine Art Trance. »Alle Menschen sind ungeduldig. Das ist eben die Art, wie die Zeit für euch läuft, eingewebt, es liegt an der Kürze eurer Fäden im Webstuhl. In Daniloth sagen wir, dass dies ein Fluch und ein Segen zugleich ist.«
    »Gibt es denn nicht Zeiten, in denen rasches Handeln erforderlich ist?« fragte Mabon angriffslustig.
    »Sicherlich«, fiel Dhira ein, als Ra-Tenniel eine Pause machte. »Mit Sicherheit gibt es sie. Aber dieser Augenblick muss in erster Linie eine Zeit der Trauer für die Toten sein, sonst erlischt die Erinnerung an sie, es wird nicht um sie geklagt und …«
    »Nein«, widersprach Ivor.
    Es war nur ein Wort, aber jeder der Anwesenden hörte den lange unterdrückten Anflug eines Befehlstons. Der Aven stand auf.
    »Nein, Dhira«, wiederholte er leise. Er hatte es nicht nötig, seine Stimme zu erheben. Er stand im Mittelpunkt des Raumes. »Mabon hat recht, Davor auch, und ich glaube nicht, dass unser Freund aus Daniloth anderer Meinung ist. Keiner der Männer, die letzte Nacht starben, und keiner von den Brüdern und Schwestern der Lios, die ihr Lied verloren haben, wird ohne Totenklage unter Ceinwens Hügel liegen. Die Gefahr«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde streng und unversöhnlich, »ist nur, dass sie vielleicht umsonst gestorben sind, aber das darf nicht sein, solange wir leben, solange wir reiten und Waffen tragen können. Dhira, wir sind im Krieg, und die Finsternis umringt uns. Vielleicht gibt es später Zeit, um zu trauern, aber nur, wenn wir uns zum Licht durchkämpfen.«
    Ivor hatte nichts an sich, dachte Dave, was ihn besonders hervorgehoben hätte … verglichen mit Ra-Tenniels Strahlen, verglichen mit Dhiras langsamer Würde oder selbst Levons unbewußter tierischer Anmut. Es waren viel imposantere Männer im Raum, ihre Stimmen waren zwingender, ihre Augen gebieterischer, aber Ivor war ein Feuer, und es war mit einem Willen und einer Liebe zu seinem Volk verbunden, und das war mehr als all diese anderen Dinge. Dave blickte auf den Aven und wusste, dass er diesem Mann folgen würde, wohin auch immer der Weg führen würde.
    Dhira hatte sein Haupt gebeugt, als ob ein doppeltes Gewicht auf ihm laste, das Gewicht dieser Worte wie auch das seines hohen Alters.
    »Das ist richtig, Aven«, gab er zu, und Dave war mit einem Male von der Müdigkeit in seiner Stimme gerührt. »Der Weber möge gewähren, dass wir unseren Weg zum Licht finden.« Er hob sein Haupt und blickte zu Ivor. »Vater der Ebene«, sagte er, »dies ist nicht der Zeitpunkt, um mich an die Würde des Ortes zu klammern. Wirst du mir erlauben, dir und deinen Kriegern Platz zu machen und mich zu setzen?«
    Ivor presste seine Lippen zusammen. Dave wusste, dass er kämpfte, um die schnellen Tränen zurückzuhalten, um derentwillen er in seiner Familie so verspottet wurde. »Dhira«, entgegnete der Aven, »die Würde des Ortes gebührt immer und ewig nur dir. Du kannst sie weder an mich noch an irgend jemand sonst abgeben. Aber Dhira, du bist der Häuptling des ersten Stammes, der Kinder des Friedens … es ist der Stamm der Schamanen, der Lehrer und der Hüter der Traditionen. Mein Freund, wie könnte man von einem solchen Mann verlangen, einen Kriegsrat zu

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