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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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die Morgengesänge zu leiten. Shiel warf nur einen Blick auf Leila und ging wortlos hinaus.
    Leila schritt die engen Wände ihres Zimmers auf und ab und bemühte sich, die Bilder, die in ihr Bewusstsein blitzten, festzuhalten. Aber sie waren zu schnell, zu heftig, zu chaotisch. Sie wusste nicht, woher sie kamen, wie sie sie empfangen konnte. Sie wusste es nicht! Und sie wollte sie nicht! Ihre Hände waren feucht, sie fühlte Schweiß auf ihrer Stirn, obwohl die unterirdischen Räume ebenso kühl wie immer waren.
    Unter dem Kuppelgewölbe gingen die Gesänge zu Ende. In plötzlichem Schweigen wurde sie sich ihrer eigenen Schritte bewusst, sie bemerkte, wie schnell ihr Herz schlug, wie schnell ihr Bewusstsein pulsierte … alles schien lauter und dringlicher. Sie hatte jetzt mehr Angst als jemals zuvor. Es klopfte an der Tür.
    »Ja!« stieß sie hervor. Sie hatte es nicht in dieser Weise sagen wollen. Ängstlich öffnete Shiel die Tür und spähte herein. Sie betrat den Raum nicht. Als sie Leilas Gesicht sah, weiteten sich ihre Augen.
    »Was ist?« fragte Leila und versuchte, ihre Stimme zu beherrschen.
    »Es sind Männer hier, Priesterin, sie warten am Eingang. Willst du sie sehen?«
    Jetzt hatte sie zumindest etwas zu tun, etwas zu unternehmen. Sie eilte an Shiel vorbei und ging in den gewundenen Gängen schnell bis zum Tempeleingang. Dort warteten drei Priesterinnen und eine schwarz-braun gekleidete Akolytin. Die Tore standen offen, aber die Männer warteten geduldig draußen.
    Sie kam zur Schwelle und sah, wer es war. Sie kannte sie alle drei: Gorlaes, den Kanzler, Shalhassan von Cathal und den fetten Tegid, der sich soviel gekümmert und gesorgt hatte, als Sharra von Cathal hier gewesen war.
    »Was wollt ihr?« fragte sie brüsk. Wieder war ihre Stimme härter, als sie es wollte. Es gelang ihr jetzt nur schwer, sie zu kontrollieren. Der Tag draußen schien strahlend zu sein. Die Sonne tat ihren Augen weh.
    »Kind«, wollte sich Gorlaes vergewissern, »bist du diejenige, welche die Hohepriesterin vertritt?«
    »Ich bin es«, antwortete sie kurz und wartete.
    Shalhassans Haltung war anders, drückte eher ruhige Zustimmung aus. Er bemerkte: »Ich habe von dir gehört, du bist Leila dal Karsh?«
    Sie nickte und trat ein wenig zur Seite, um im Schatten zu sein.
    Shalhassan fuhr fort: »Priesterin, wir sind gekommen, weil wir Angst haben. Wir wissen nichts, wir können nichts erkennen. Ich dachte, dass die Priesterinnen vielleicht Nachrichten über den Ausgang der Ereignisse haben.«
    Sie schloss die Augen. Auf irgendeiner Ebene hätte sie dies als Triumph auffassen können, wenn das Gewebe dieser Geschehnisse normal verlaufen wäre: die Führer von Brennin und Cathal, die derartig demütig zum Heiligtum kamen. Sie war sich dessen bewusst, vermochte aber nicht, die angemessene Antwort zu finden. Sie schien ganze Lebensspannen von den raschen Fiebern dieses Tages entfernt.
    Sie öffnete ihre Augen und bekannte: »Auch ich habe Angst. Ich weiß sehr wenig. Ich weiß nur, dass … dass heute morgen etwas geschieht. Und es ist Blut da. Ich glaube, dass sie kämpfen.«
    Der dicke Tegid entließ ein rumpelndes Geräusch aus seiner Brust. In seinem Gesicht sah sie Besorgnis und Zweifel. Einen Augenblick zögerte sie noch und fügte dann hinzu, nachdem sie tief Atem geholt hatte: »Wenn ihr wollt, wenn ihr Blut gebt, könnt ihr eintreten. Ich werde alles mit euch teilen, was ich erfahren werde.«
    Alle drei verbeugten sich vor ihr.
    »Wir werden dankbar sein«, murmelte Shalhassan, und sie konnte hören, dass er es ernst meinte.
    »Shiel«, gebot sie und war wiederum nicht imstande, ihren scharfen Befehlston zu unterdrücken. »Nimm das Wasser und die Schale zur Hand und bring beides dann zum Gewölbe.«
    »Ich werde es tun«, gehorchte Shiel mit einem Mut, den sie nur selten aufbrachte.
    Leila wartete nicht. Wieder schnitt sich ein inneres Gesicht wie ein Wasser in ihr Bewusstsein und verschwand. Sie wandte sich vor der Schwelle nach innen, stolperte, fast wäre sie gefallen. Sie sah die erschreckten Augen der jungen Akolytin, die von ihr abrückte. Jung? registrierte sie in einem Teil ihres Bewusstseins. Das Mädchen war älter als sie selbst.
    Leila schritt weiter zum Gewölbe. Ihr Gesicht war jetzt blutleer, sie konnte es fühlen. Und sie konnte fühlen, wie in ihr eine dunkle, kalte Angst immer höher und höher stieg. Es schien ihr, während sie ging, als ob die Wände des Heiligtums um sie her von Blut überströmt

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