Das Kind des Schattens
zu fliegen. Zwar hatte sie etliche Male mitgehört, wie ihre Eltern darüber sprachen (es gelang ihr überhaupt, sehr viel mitzuhören), und vor drei Nächten, als ihr Vater den Schutz der Frauen und Kinder Tabor allein anvertraut hatte, war sie ebenfalls zugegen gewesen.
Aber dieses geflügelte Wesen hatte sie nie zuvor gesehen, und deshalb hatte Liane erst zu diesem Zeitpunkt wirklich verstanden, was mit ihrem jüngeren Bruder geschehen war. Sie ähnelte mehr ihrer Mutter als ihrem Vater: Sie weinte nicht so leicht und nicht so oft, aber sie hatte erkannt, dass es für Tabor gefährlich war zu fliegen, und dann hatte sie die Fremdheit in seiner Stimme vernommen, als er aufsaß, und sie hatte geweint, als er wegflog.
Die ganze Nacht war sie wach geblieben, sie saß auf der Schwelle des Hauses, das sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder teilte, bis kurz vor der Dämmerung im Westen von ihnen beim Fluss ein fallender Stern niederging.
Kurze Zeit später war Tabor ins Lager zurückgekehrt, er hatte vor den erstaunten Frauen, die dort wachten, die Hand erhoben. Bevor er wortlos nach drinnen ging und ins Bett fiel, berührte er seine Schwester leicht auf der Schulter.
Sie wusste, dass es mehr als Müdigkeit war, aber sie konnte nichts tun. So war sie denn auch selbst zu Bett gegangen, hatte unruhig geschlafen und von Gwen Ystrat und dem blonden Mann aus einer anderen Welt geträumt, der zu Liadon geworden war und den Frühling zurückbrachte.
Entgegen ihrer Gewohnheit stand sie bei Sonnenaufgang noch vor ihrer Mutter auf. Sie sah nach und fand, dass Tabor noch immer schlief, zog sich an und ging hinaus. Abgesehen von den Wachen an den Toren war das Lager ruhig. Sie blickte nach Osten zum Vorgebirge und zu den Bergen, dann nach Westen, wo der Latham funkelte und wo sich dahinter die Ebene ausbreitete. Als kleines Mädchen hatte sie gedacht, dass die Ebene ohne Ende immer so weiterginge. Und irgendwo dachte sie es noch immer.
Es war ein wunderbarer Morgen, und trotz all ihrer Sorgen und des unruhigen Schlafes sprang ihr Herz voll Freude, als sie die Vögel hörte und die Frische der Morgenluft einatmete.
Sie ging weiter, um nach Gereint zu sehen. Als sie das Haus des Schamanen betreten hatte, hielt sie einen Augenblick inne, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie und ihr Bruder hatten sich mehrmals am Tag um ihn gekümmert: Es war eine Pflicht und ein Liebesdienst. Aber der alte Schamane hatte sich von dem Augenblick an, als sie ihn hierher getragen hatten, nicht mehr gerührt. Sein Gesichtsausdruck sprach von so schrecklicher Angst, dass Liane es kaum aushalten konnte, ihn anzusehen.
Und trotzdem tat sie es immer wieder, sie suchte nach Wegen, wie sie ihm helfen könne. Wie konnte man jemandem Hilfe anbieten, dessen Seele in solcher Ferne reiste? Sie wusste es nicht. Von ihrem Vater hatte sie die Liebe zu ihrem Volk, von ihrer Mutter ruhige Stabilität, dazu kamen ihr eigenes beharrliches Wesen und eine ganze Menge Mut. Aber da wo Gereint weilte, schien all das zu versagen. Trotzdem besuchte sie ihn, und Tabor tat es auch: Sie wollten einfach nur anwesend sein, teilnehmen, wie unbedeutend ihr Anteil auch sein mochte.
So stand sie nun wieder auf seiner Schwelle und wartete, bis sich die Dunkelheit ein wenig erhellte, dann hörte sie eine Stimme, die ihr ihr ganzes Leben lang schon bekannt war, ihren Tonfall, den sie ebenfalls zeitlebens schon kannte: »Wie lange muss ein alter Mann in diesen Tagen auf sein Frühstück warten?«
Sie schrie ein wenig auf, es war eine kindliche Gewohnheit, die sie noch immer abzulegen versuchte. Dann aber schien sie die Entfernung bis zur Mitte des Raumes sehr schnell zurückgelegt zu haben, denn sie fand sich kniend neben Gereint wieder, sie umarmte ihn und weinte, wie ihr Vater geweint hätte und in diesem Falle vielleicht sogar ihre Mutter.
»Ich weiß«, sagte er ruhig und tätschelte ihren Rücken, »ich weiß. Es tut dir schrecklich leid. Es wird nie wieder geschehen. Das weiß ich alles. Aber Liane, eine Umarmung am Morgen, so angenehm sie auch sein mag, ist kein Frühstück.«
Sie lachte und weinte gleichzeitig und versuchte, ihn so festzuhalten, solange sie konnte, ohne seine brüchigen Knochen zu verletzen. »O Gereint«, flüsterte sie, »ich bin so froh, dass du zurück bist. Soviel ist geschehen.«
»Ja, sicherlich«, entgegnete er in vollkommen verändertem Tonfall. »Jetzt halte einen Augenblick still und lass es mich in dir lesen. Das geht schneller als
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