Das Kind
seinen gesamten Schädel zu zersprengen. Mit einer einzigen Handbewegung zog Engler einen grünen Krankenhauskittel weg, der über dem Körper des bewusstlosen Jungen gelegen hatte. In dem fahlen Licht der Kofferraumbeleuchtung sah Simon aus, als wäre er bereits tot.
10.
S tern konnte seinen Blick nicht von dem Jungen abwenden,
der zusammengerollt wie ein ausrangierter Winterreifen in dem Kofferraum lag.
»Stillhalten!«
Engler war hinter ihn getreten, und auf einmal fühlte er Druck gegen seinen Rücken. Seine Handgelenke wurden schmerzhaft verdreht, und er dachte schon, der Polizist würde sie ihm brechen wollen, als es auf einmal knackte und seine Hände plötzlich wieder frei waren. Engler hatte die Plastikfesseln durchschnitten.
»Keine falsche Bewegung«, fl üsterte er ihm ins Ohr. Stern konnte seinen feuchten Atem durch den dicken Stoff der Skimütze fühlen.
»Zur Seite drehen!«
Ihm wurde schwindelig. Die größte Kraft kostete es ihn, Simon aus den Augen zu lassen, während er den Befehlen des Kommissars gehorchte. Als Engler wieder direkt vor ihm stand, hielt dieser eine Pistole in seiner linken Hand, auf deren Lauf eine Halogenleuchte montiert war. Mit der anderen Hand drückte er ein Baby an sich.
Sterns Augen weiteten sich, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass der fl eischfarbene Kopf zu einer Puppe gehörte. Es war der einzige Körperteil, der aus der weißen Leinendecke herausragte, mit der die lebensechte Attrappe verhüllt war. »Sie spricht sogar«, lächelte Engler zynisch und drückte ihr auf den Bauch.
Also doch. Stern erinnerte sich an das Wimmern, das er vor
der »Brücke« gehört hatte.
Engler schlug die Heckklappe des Kofferraums wieder zu.
Kein Stöhnen. Kein Zucken. Nichts. Simon schien sich die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal bewegt zu haben. »Ich gebe Ihnen jetzt Ihre fi nalen Anweisungen. Dann setze ich mich auf die Rückbank Ihres Wagens und werde Sie beobachten. Sollten Sie aus irgendeinem Grund auf die Idee kommen, von meinen Vorgaben abzuweichen, werde ich aussteigen, den Kofferraum öffnen und Ihren kleinen Freund darin ersticken. Haben wir uns verstanden?« Stern nickte. »Machen Sie alles zu meiner Zufriedenheit, wird Simon bewusstlos neben Ihrer Leiche gefunden werden. Da er betäubt ist, wird er sich an nichts erinnern können. Es ist also kein Bluff. Ich kann ihn am Leben lassen. Ob Sie es glauben oder nicht, anders als Probtjeszki töte ich nur höchst ungern Kinder. Kein guter Händler vernichtet freiwillig seine Ware. Aber das hängt jetzt einzig und allein von Ihnen ab.« Der Schweiß unter der Skimütze fühlte sich wie Säure an. Stern glaubte in einer wollenen Schraubzwinge zu stecken, die ihn langsam erstickte. Nachdem Robert alle Befehle Englers noch einmal im Geiste wiederholt hatte, bekam er von ihm die Puppe in einem kleinen Rattankorb übergeben, den dieser von der Rückbank genommen haben musste. Dann fühlte er, wie der Polizist ihm einen Umschlag in seine hintere Hosentasche steckte.
»Was ist das?« Engler las die Frage in Steins gehetzten Augen.
»Ich halte meine Versprechen«, erklärte der Kommissar mit ironischem Unterton. »Ich habe Ihnen die Adresse von Felix aufgeschrieben. Wer weiß, vielleicht können Sie in einem anderen Leben ja etwas damit anfangen.«
Englers Lachen entfernte sich. Dann erstarb es vollends, als die schwere Tür des Mercedes zuschlug.
Stern musste alle Willenskraft aufbringen, um nicht vor
Angst durch die Nase zu hyperventilieren. Er legte seinen Kopf schräg, damit sich seine Augen schneller an die weiterhin herrschende Dunkelheit gewöhnten, aber noch konnte er die angekündigten Lichtkegel nicht zwischen den Bäumen der Zufahrt ausmachen.
Doch das würde sich bald ändern. Der Tod war auf dem Weg und würde in wenigen Minuten eintreffen. Sterns gesamter Oberkörper verkrampfte sich in Erwartung des Schmerzes, der ihn gleich durchfahren würde. Dann setzte er sich zögerlich in Bewegung.
11.
E s ist immer wieder ein Wunder, wie viel Kraft Gott einem
verleiht, wenn man das Böse bekämpfen will, dachte der
Mann und räusperte sich. Kurz darauf musste er husten. Eilig nahm er seinen Fuß vom Gas, als er merkte, dass er in einem Moment der Unachtsamkeit die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten hatte. Schweiß lief ihm die faltige Stirn herab und verfi ng sich in seinen buschigen Augenbrauen.
Eigentlich war sein Körper den Belastungen, denen er sich heute aussetzen wollte, nicht mehr gewachsen. Zu
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