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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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sehr hatte er sich schon in den Jahren zuvor verausgabt. Den Jahrzehnten der Rache. Alles hatte mit einem kleinen Artikel über Kindesmissbrauch begonnen. Er hatte ihn für das kleine Wochenblatt nur geschrieben, weil die Chefredakteurin krank wurde und er der Einzige war, der für sie einspringen
konnte.
Heute sah er das als ein Zeichen. Es konnte kein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet er über diese schrecklichen Verbrechen schreiben sollte, wo doch sein eigener Bruder mit acht Jahren verschwand. Seine Leiche fand man ein halbes Jahr später in einem so schrecklichen Zustand, dass man seinen Eltern abgeraten hatte, noch einmal einen Blick darauf zu werfen.
Aus seinem ersten Artikel wurde eine Serie, aus der Serie das Manuskript eines Buchs, das allerdings nie den Weg zu einem Verlag fand. Er sah keinen Sinn mehr darin, die dunklen Kapitel zu veröffentlichen. Kein Kind würde davon die erlittenen Qualen vergessen können. Und kein Täter würde deshalb seine kranken Pläne fallenlassen. Auch sein Bruder würde nie wieder zu ihm zurückkehren. Alles würde so weitergehen wie bisher. Als er diese bittere Wahrheit eines Sonntags ebenso deutlich vor sich sah wie die Bilder, die ihn keine Nacht mehr schlafen ließen, beschloss er zu handeln. Die ersten beiden Morde waren die schwierigsten gewesen. Die anderen danach waren alle leichter gestorben. Nicht so wie Zucker, bei dem es gar nicht mit der Axt geschehen sollte. Doch der Mann war kräftig gewesen, hatte sich bis aufs Blut gewehrt und ihm sogar die Pistole entwenden können. Zum Glück hatte Gott ihm ein Spitzbeil gereicht. Noch so ein Zeichen. Obwohl die Fabrikruine schon damals abgebrannt gewesen war, hing es immer noch neben einem verkohlten Feuerlöscher an der Wand. Seitdem konnte er keine Nüsse mehr essen. Das Knacken der Schale war einfach nicht mehr zu ertragen.
Der alte Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn und wollte das Autoradio anstellen. Ließ dann aber davon ab. Er hörte gerne Musik, doch den letzten Akt wollte er still ein läuten.
Sein Wagen, der ihn nun auch schon seit vielen Jahren auf seinen fi nsteren Pfaden treu begleitet hatte, fuhr an der Ausfahrt Hüttenweg vorbei. Nur noch wenige Kilometer. Bald sind wir da.
Wie immer spürte er einen leichten Harndrang, bevor es losging. Reine Nervosität. Er würde das Ziehen in der Blase vergessen, sobald er dem Bösen ins Gesicht sah. Die Vorbereitungen für den heutigen Tag hatten Monate gedauert. Er musste sich, wie so oft zuvor, verleugnen und die schlimmste Identität annehmen, die es wohl gab: die eines Päderasten. Es war lange her, seit er das letzte Mal einen Schandfl eck ausradiert hatte. Zweieinhalb Jahre. Viele seiner alten Kontakte waren verstaubt, andere wären misstrauisch geworden, wenn er plötzlich wieder auf der Bildfl äche erschien. Doch schließlich war es ihm gelungen, mit dem Mann in Kontakt zu treten, den alle nur den »Händler« nannten. Über das Internet. Und heute sollte er ihn treffen. Natürlich konnte er nicht sicher sein, dass er nun wirklich die Gelegenheit bekam, das Übel an der Wurzel auszureißen. Er wusste auch nicht, was er davon halten sollte, dass der Treffpunkt in letzter Sekunde noch einmal verlegt und das Treffen um fünfundvierzig Minuten nach hinten verschoben worden war. Er wusste nur, dass Gott seine Geschicke lenken würde. Er war alt. Im Gegensatz zu den Kindern hatte er nichts mehr zu verlieren.
Der Mann nahm die Ausfahrt Spanische Allee und streichelte den Revolver neben sich auf dem Beifahrersitz. Natürlich hatte er sich oft gefragt, ob er rechtens handelte. Jeden Sonntag ging er mit dem Herrn ins Zwiegespräch. Bat um ein Zeichen. Um einen kleinen Hinweis, ob er innehalten sollte. Einmal, als sie ihm von Simon erzählten, dachte er schon,
jetzt hätte er ihn erhalten, den Wink Gottes. Doch er hatte sich geirrt.
Und weitergemacht. Bis heute.
Der alte Mann schaltete das Fernlicht ein, als er den dunklen Waldweg erreicht hatte. Die Sackgasse, die zum Strandbad Wannsee führte.
12.
N och vierzig Meter.
Stern setzte einen Fuß vor den anderen. Erst den gesunden, dann den geschwollenen. Immer geradeaus auf das Licht zu, so wie Engler es ihm befohlen hatte.
Die Wartezeit in der regnerischen Kälte war ihm wie eine angsterfüllte Ewigkeit erschienen, dabei war das Fahrzeug nur wenige Minuten, nachdem Engler ihn allein gelassen hatte, mit aufgeblendetem Fernlicht von der Zufahrtsstraße in den verlassenen Parkplatz eingebogen. Robert

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