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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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überlegte ein letztes Mal, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gab, das unvermeidliche Ende hinauszuzögern. Doch ihm wollte nichts einfallen. Also marschierte er wie ein Stück Schlachtvieh Schritt für Schritt dem langsam ausrollenden Wagen und damit seinem eigenen Tod entgegen.
Sein Puls beschleunigte sich nochmals, als das ältere Mittelklassemodell plötzlich mit einem Ruck stehenblieb. Der Wind trug das metallische Knirschen einer ausgeleierten Handbremse zu ihm herüber. Fast zeitgleich sprang die Fahrertür auf, und eine Gestalt schob sich mit ungelenken Be wegungen aus dem Fahrzeug.
Wer ist das?
Bei jedem zweiten Schritt zuckten schmerzende Blitze seine Wirbelsäule entlang. So intensiv, dass Stern fast erwartete, sie würden die trübe Sicht auf den verregneten Parkplatz erhellen. Er suchte nach Anzeichen dafür, dass er den Mann kannte, der mit schleppendem Gang vor die Motorhaube trat und genau zwischen den Scheinwerfern seines Wagens stehenblieb. Vergeblich. Allerdings konnte er auch das Gegenteil nicht ausschließen. Im Augenblick fühlte er sich wie ein Verdurstender, der auf ein Trugbild in der Wüste zuging. So unwirklich war das alles. Immer mehr verschwammen die Konturen, je näher er der Lichtspiegelung kam. Nur eines stand fest: Der Mann war nicht mehr jung. Vielleicht sogar alt. Die langsamen Bewegungen, die kurzen Schritte, die leicht gebückte Haltung – er bemühte sich, noch mehr aus dem Schattenbild zu lesen, das jetzt direkt vor den grellen Scheinwerfern stehengeblieben war und sich nicht mehr rührte. Das spärliche Licht der aufgehenden Sonne fand nur mühsam seinen Weg durch die dicke Wolkendecke und verlieh dem Fremden eine unheimliche Aura. Wie ein Todes- engel mit Heiligenschein, dachte Stern und blinzelte einen
Regentropfen aus seinem Auge.
Noch dreißig Meter.
Er verlangsamte nochmals das Tempo. Soweit er sich erinnerte, war das der einzige Handlungsspielraum, der ihm verblieben war. Hiermit verstieß er gegen keine todbringende Regel.
Einfach geradeaus marschieren, hatte Engler gesagt. Nicht
nach rechts. Nicht nach links. Nicht wegrennen.
Er kannte die Konsequenzen. Und er begriff auch die Perfidie des Plans, den er gerade ausführte. Mit jedem Schritt ver kürzte er nicht nur den Abstand, sondern auch seine Lebenszeit.
Er presste den Korb vor seine Brust, in dem die Babyattrappe lag, aus der Engler vorsichtshalber die Batterien entfernt hatte. Nichts sollte den »Rächer« ablenken. Nichts sollte ihn warnen, dass ihm bald der Falsche gegenüberstehen würde. Engler hatte sich ein Duell ausgedacht, bei dem Stern ohne Waffen erscheinen musste. Sollte es sich bei dem Mann tatsächlich um den »Rächer« handeln, würde dieser sein Gegenüber für den »Händler« halten und ihn erschießen wollen. Bei der ersten Gelegenheit. In wenigen Sekunden. Noch zwanzig Meter.
Jetzt war er in Rufweite. Doch der Knebel, der sich in seinem ausgetrockneten Mund von Sekunde zu Sekunde mehr auszudehnen schien, verhinderte jede Art der Kontaktaufnahme. Stern überfi el ein Gefühl unendlicher Hilfl osigkeit, wie er es zuletzt auf Felix’ Begräbnis empfunden hatte. Oder auf der Beerdigung eines fremden Babys?
Er hatte keine Hoffnung mehr. Es gab keine Rettung. Alles, was er tat, gefährdete Simon. Alles, was er unterließ, tötete ihn selbst.
Noch fünfzehn Meter.
Stern begriff, wie unwahrscheinlich es war, dass Engler nach dieser provozierten Hinrichtung irgendjemanden überleben ließ. Sobald er eine Kugel im Kopf hätte, würde Engler auch den »Rächer« überwältigen und danach Simon erschießen. Dann bräuchte er noch eine Minute, um die Leichen zu drapieren, bevor er das Signal zum Zugriff gab. Stern sah den Aktenbericht vor sich:
Kinderhändler (Robert Stern) übergibt Kind (Simon Sachs)
an Pädophilen (?). Übergabe scheitert.
Es kommt zum Schusswechsel, in dessen Folge alle drei Personen tödliche Verletzungen erleiden. Versteckter Zeuge (Kommissar Martin Engler) konnte Eskalation nicht verhindern, ohne sich selbst zu gefährden. Noch zehn Meter.
Aber wer weiß? Irrationale Hoffnung fl ackerte kurz in Stern
auf. Simon ist betäubt und daher kein gefährlicher Zeuge. Je mehr Leichen, desto größer das Risiko. Vielleicht würde
Engler nicht mehr Menschen umbringen, als unbedingt nötig war? Vielleicht würde er Simon am Leben lassen? Der Schatten bekam auf einmal Ecken und Kanten, bei deren Anblick in Robert das unbestimmte Gefühl wuchs, dem Mann schon einmal begegnet zu

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