Das Kind
außerstande, im Geiste weitere Fragen zu formulieren. Er wollte sich abwenden, zur Toilette rennen und mit dem kargen Mittagessen seine gesamten Erinnerungen erbrechen, doch ein unsichtbarer Schraubstock hielt sein Gesicht in Position. Und so musste er die grobkörnigen Bilder ertragen, auf denen sein Sohn die Augen aufriss. Weit. Staunend. Ungläubig. Als würde er ahnen, dass sein winziger Körper gleich alle Lebensfunktionen einstellen würde. Felix schnappte nach Luft, begann zu zittern und sah aus, als hätte er sich an einer viel zu großen Gräte verschluckt, so blau, wie er plötzlich anlief. An dieser Stelle konnte Stern sich nicht mehr zurückhalten. Er übergab sich auf den Parkettboden. Als er nur wenige Sekunden später zitternd und mit vorgehaltener Hand wieder auf den Bildschirm starrte, war alles schon vorbei. Sein Sohn, der eben noch geatmet hatte, starrte mit leerem Blick und halb geöffnetem Mund in die Kamera, die jetzt wieder die gesamte Säuglingsstation einfi ng: vier Betten. Alle belegt. Und in einem davon war es unerträglich ruhig. »Es tut mir sehr leid. Ich weiß, diese letzten Bilder von Felix waren sicher sehr schmerzhaft für Sie.«
Die knarrenden Worte schnitten wie Rasierklingen. »Doch es musste sein, Herr Stern. Ich habe Ihnen etwas
Wichtiges zu sagen. Ich will, dass Sie mich ernst nehmen. Und jetzt kann ich wohl davon ausgehen, Ihre volle Aufmerksamkeit zu besitzen.«
8.
R obert Stern fühlte sich, als würde er nie wieder in seinem
Leben zu einem klaren Gedanken fähig sein. Bis er registrierte, dass der Nebelschleier vor seinen Augen von den Tränen herrührte, die ihm das Gesicht herunterströmten, verging eine Weile, die die unbarmherzige Stimme offenbar einkalkuliert hatte.
Ist das wirklich geschehen? Habe ich wirklich gerade die
letzten Sekunden meines Sohnes gesehen?
Er wollte aufstehen, die DVD aus dem Abspielgerät reißen, den Fernseher durch das geschlossene Fenster treten, und wusste doch, dass er in seinem Schock nicht einmal mehr die rechte Hand hätte heben können. Die einzige Bewegung, zu der sein Körper noch imstande war, geschah ohne seinen Willen. Seine Beine zitterten unkontrolliert. Wer tut mir das an? Und weshalb?
Die Bilder wechselten. Seine Angst wurde stärker. Die Säuglingsstation war einer Außenansicht der Industrieruine gewichen, vor der er gestern auf Carina gewartet hatte. Die Aufnahmen des Geländes mussten schon etwas älter sein. Sie waren an einem sonnigen Frühlingsoder Sommertag entstanden.
»Sie haben gestern Nachmittag auf diesem Grundstück ei ner ehemaligen Farbenfabrik eine Leiche gefunden.« Die Stimme machte eine weitere Pause. Stern blinzelte und erkannte den Geräteschuppen wieder.
»Wir haben sehr lange darauf gewartet, dass das passiert. Fünfzehn Jahre, um genau zu sein. In diesem Punkt sagt der Junge tatsächlich die Wahrheit. Nach so langer Zeit hätten wir eigentlich mit einem Landstreicher oder einem Hund gerechnet, der den Toten per Zufall aufstöbert. Doch stattdessen kamen Sie. Zielstrebig. In Begleitung. Und deshalb sind Sie jetzt im Spiel, Herr Stern. Ob Sie es wollen oder nicht.«
Die Kamera zog einen Dreihundertsechzig-Grad-Kreis und zeigte neben den baufälligen Gebäuden kurz einen Lieferwagen ohne Firmenaufschrift, dann blieb sie mit Fokus auf dem abgebrannten Bauwerk stehen, in das Robert vor wenigen Stunden Simon gefolgt war.
»Ich will von Ihnen wissen, wer den Mann ermordet hat, den Sie gestern in diesem Kellerloch fanden.« Stern schüttelte fassungslos den Kopf.
Was soll das? Was hat das alles mit Felix zu tun?
»Wer hat den Mann erschlagen? Für mich ist die Antwort von höchster Dringlichkeit.«
Stern fi xierte die bläuliche Digitalanzeige des DVD-Players, als säße die Ursache seiner seelischen Qualen leibhaftig in dem silbernen Metallgehäuse.
»Ich will, dass Sie Simons Fall übernehmen. Wenn Sie wüssten, wer ich bin, würden Sie verstehen, warum ich es nicht selbst tun kann. Daher müssen Sie sein Anwalt werden. Finden Sie heraus, woher das Kind von der Leiche wusste.« Die Stimme lachte leise.
»Da ich aber weiß, dass Anwälte nie ohne Gegenleistungen arbeiten, mache ich Ihnen ein geschäftliches Angebot. Ob
Sie es annehmen werden, hängt ganz davon ab, wie Sie meine Eingangsfrage beantworten, Herr Stern: Glauben Sie an die Möglichkeit einer Wiedergeburt?«
Auf dem Bildschirm begann es zu schneien, als handle es sich um einen alten Schwarzweißfernseher mit schlecht ausgerichteter
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