Das Kind
Zimmerantenne. Dann besserte sich die Qualität des Bildmaterials schlagartig. Die Fabrikruine war verschwunden. Den eingeblendeten Ziffern nach waren die neuen, farbenfrohen Aufnahmen erst wenige Wochen alt. Sterns Übelkeit wurde wieder stärker. Mit Ausnahme der Jahreszahl entsprach das Datum exakt dem Geburtstag seines Sohnes.
9.
N a, erkennen Sie ihn?«
Der braungebrannte Junge mit den schulterlangen, leicht gelockten Haaren trug nur eine schwarze Korallenkette auf seinem nackten Oberkörper. Er wusste, dass er gefi lmt wurde, und sah erwartungsvoll in die Kamera. Auf einmal stand er etwas unbeholfen von einem Stuhl auf und lief davon. Sterns Herz setzte aus, als er den Fleck auf dem Rücken des Jungen erkannte. Das dunkelviolette Feuermal befand sich auf seiner linken Schulter. Es sah aus wie ein kleiner Stiefel. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich!
Roberts Wangen brannten, als hätte ihn jemand geohrfeigt. Der Junge mit den Gesichtszügen, die ihm fremd und zugleich schmerzlich vertraut erschienen, kam wieder zurück
und hielt ein Messer in der Hand. Irgendjemand außerhalb des Bildes schien ihm etwas zuzurufen. Er lächelte verschämt, holte tief Luft und spitzte seine vollen Lippen. Jetzt wanderte die Kamera etwa zwanzig Zentimeter nach unten und fi ng die Geburtstagstorte ein, die auf dem Tisch stand. Schwarzwälder Kirsch. Das Kind benötigte zwei Anläufe, um die zehn Kerzen auszupusten, die in der Sahne steckten.
»Schauen Sie genau hin, Herr Stern. Denken Sie an die letzten Aufnahmen von Felix, die Sie gerade gesehen haben. Erinnern Sie sich an den kleinen Sarg, den Sie selbst zu Grabe trugen. Und dann beantworten Sie sich eine ganz einfache Frage: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?« Robert hob die Hand und war für einen kurzen Moment versucht, seine Finger auf die Mattscheibe zu pressen. Während sein Kreislauf langsam außer Kontrolle geriet, übermannte ihn das unwirkliche Gefühl, in einen Verjüngungsspiegel zu schauen.
Ist das …? Das kann nicht sein. Felix ist gestorben. Er war
kalt, als ich ihn Sophie aus den Armen nahm. Ich habe ihn
selbst beerdigt und …
»Bei diesen Bildern könnte man ins Zweifeln geraten, oder?«
… und ihn sterben sehen. Eben gerade!
Stern hustete erstickt auf. Er hatte vor Schreck die Luft angehalten, doch jetzt schrien seine Lungen nach Sauerstoff, während die unglaublichen Bilder gnadenlos weiterliefen. Der Junge auf dem Bildschirm schnitt die Torte an. Aber das kann nur … Das muss ein Zufall sein.
Der Zehnjährige war Linkshänder. Wie Robert. Stern begann am ganzen Körper zu zittern. Er glaubte eine Kopie seiner selbst zu betrachten. Genau so hatte er ausge sehen, als er ein kleiner Junge gewesen war. Es passte einfach alles. Die Haare, die etwas zu weit auseinanderstehenden Augen, das leicht vorspringende Kinn, das Grübchen, das sich beim Lächeln nur auf der rechten Wange bildete. Wenn er unten im Keller die alten Fotoalben aus den Umzugskisten kramte, würde er mit Sicherheit eine vergilbte Aufnahme fi nden, auf der er genauso in die Kamera blickte. Damals, mit zehn.
Und er hat das Feuermal .
Es war jetzt natürlich größer. Aber von der Proportion her entsprach es exakt dem Fleck, den Sophie entdeckt hatte, als sie Felix zum ersten Mal nackt in den Armen hielt. »Hier ist unser Deal.«
Die Stimme forderte wieder Sterns Aufmerksamkeit, und jetzt klang sie noch unmenschlicher als zuvor. »Ich gebe Ihnen eine Antwort für eine Antwort. Sie sagen mir, wer den Mann vor fünfzehn Jahren mit der Axt erschlagen hat, und ich verrate Ihnen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt.«
Mit diesen Worten verschwand das Geburtstagskind, und Robert wurde wieder zehn Jahre zurück in den überbelichteten Saal der Säuglingsstation geschleudert. Zwei Standbilder wechselten sich in einem grauenvollen Rhythmus ab. Felix in seinem Bett. Einmal lebend, einmal tot. »Finden Sie den Mörder, und Sie bekommen den Namen und die Adresse des Jungen, den Sie eben gesehen haben.« Lebendig. Tot. Lebendig …
Stern wollte aufstehen, um seinen Schmerz herauszuschreien, doch ihm fehlte mittlerweile jegliche Kraft. Tot.
»Eine Antwort für eine Antwort. Kümmern Sie sich um Simon. Wir übernehmen den Therapeuten. Sie haben fünf
Tage Zeit. Keine Stunde länger. Lassen Sie diese Frist verstreichen, werden Sie nie wieder von mir hören und nie die Wahrheit erfahren. Ach ja. Und noch was.« Die Stimme klang jetzt gelangweilt, so, als wolle sie am Ende eines Arzneimittelspots
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