Das Kind
hatte sie die beiden ja zusammengeführt. Sie hatte gewollt, dass er sich um den Jungen kümmerte.
Aber doch nicht so!
Nicht als sein Anwalt. In Wahrheit war sie einer völlig naiven Wunschvorstellung erlegen, als sie das Treffen arrangiert hatte. Natürlich ging es ihr zuerst um Simon. Dank ihrer dämlichen Idee mit der Rückführung wurde seine Angst vor dem Tod nun durch noch schlimmere Sorgen überlagert. Er glaubte ein Mörder zu sein, und diesen Irrlauf musste sie stoppen.
Doch für den Gang in den Keller hätte sie Robert nicht benötigt. Vermutlich wäre hier Picasso sogar hilfreicher gewesen. Nein, ihr war es darum gegangen, Robert mit Simon zusammenzubringen. Sie hatte ernsthaft gehofft, die beiden könnten eine Verbindung eingehen, bei der der Anwalt die Sorgen des Kindes aus der Welt schaffte und dafür mit einem kleinen Riss in seinem Seelenpanzer belohnt wurde. Denn dies war Simons wahrhaft unerklärliche Fähigkeit: Trotz seiner eigenen Krankheit schaffte er es allein durch seine Anwesenheit, traurigen Menschen im Krankenhaus ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern und ihren Nebelschleier aus Depressionen und Melancholie etwas zu lichten. Ja, so blöd bin ich, dachte sie. Jeder Schritt ein Fehler.
Carina sah auf ihre Armbanduhr und fragte sich, ob wirklich erst zweiundvierzig Stunden vergangen waren, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte. Es war kurz vor elf Uhr am Vormittag, und sie konnte sich nicht erinnern, jemals um die se Uhrzeit das Klinikgelände betreten zu haben. »Was willst du denn noch von ihm wissen?«, fl üsterte sie heiser, Handy am Ohr. Sie grüßte eine vorbeieilende Kollegin, indem sie kurz die Hand hob, in der sie ihre leere Sporttasche trug. Carina war eigentlich nur noch einmal zurückgekommen, um ihre persönlichen Habseligkeiten aus dem Spind zu holen und sich von den Kollegen zu verabschieden. Das, was Stern jetzt von ihr verlangte, stand eindeutig
nicht auf ihrer Tagesordnung.
»Ich war heute Morgen schon bei ihm, und er gab mir einen neuen Hinweis. Du wirst es nicht glauben: Wir haben tatsächlich noch eine gefunden.«
»Noch eine was? « Carina lief die Rollstuhlauffahrt zum Empfangsbereich hoch. Eine Windböe wirbelte ihre Haare von hinten nach vorne, und sie fröstelte, weil es sich anfühlte, als ob ihr jemand mit einem Strohhalm feuchte Luft in den Nacken pustete.
»Eine Leiche. Sie steckte in einem Kühlschrank. Mit einer Plastiktüte erstickt, genauso wie Simon es beschrieben hat.«
Carina entglitt das bemühte Lächeln, das sie dem Pförtner zur Begrüßung schenken wollte, und sie eilte schnell weiter zu den Fahrstühlen.
Ihr wurde schwindelig. Sie hatte immer geahnt, dass der Kontakt zu Robert Stern sie irgendwann in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde. Seit drei Jahren schlug sie jede innere und auch äußere Stimme in den Wind, die sie vor der psychischen Ansteckungsgefahr warnte. Sein trübsinniger Gemütszustand war wie radioaktive Strahlung. Unsichtbar, aber mit den schlimmsten Nebenwirkungen für alle, die ihr ausgesetzt waren; und auch sie fürchtete sich vor einer Überdosis schlechter Energie, wenn sie sich zu sehr auf ihn einließ. Trotzdem suchte sie immer wieder seine Nähe, ganz ohne Schutzanzug. Doch diesmal, schien es, war sie zu dicht an ihn herangetreten. Ihre gemeinsamen Erlebnisse bedrohten nicht länger nur die Seele. »Und wir haben noch etwas bei der Leiche entdeckt.« Wir?, fragte sie sich, stellte aber die weitaus wichtigere Fra ge: »Was?«
Auf dem Rufknopf des Fahrstuhls zeichnete sich ein
feuchter Abdruck ab, als sie ihre Fingerspitze wieder von ihm löste.
»Ein Zettel. Er lag bei dem Toten. Genauer gesagt steckte er zwischen seinen verfaulten Fingern.«
»Was steht drauf?« Sie wollte es gar nicht hören. »Du hast ihn schon mal gesehen.«
»Wie bitte?«
»Bei Simon. In seinem Zimmer.«
»Das ist ein Scherz.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich wie in Zeitlupe, und Carina trommelte nervös mit ihren Fingernägeln gegen die Aluminiumtür. Sie wollte so schnell wie möglich in den Kokon der abgeschlossenen Kabine verschwinden.
»Es ist eine Kinderzeichnung«, erklärte Stern. »Von einer Wiese mit einer kleinen Kirche.«
Das kann nicht sein.
Carina drückte auf den Knopf für die Neurologie und schloss die Augen.
Das Bild an Simons Fenster. Er hatte es erst vor drei Tagen
gemalt. Nach der Rückführung.
»Begreifst du jetzt, warum ich ihn sehen muss?« »Ja«, fl üsterte Carina, obwohl sie eigentlich gar nichts mehr verstand. Sie
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