Das Kind
Schulter legte.
»Ich habe ihn nur dreimal auf dem Arm gehabt, weißt du?« Stern wusste selbst nicht, warum er das eben gesagt hatte.
»Einmal davon war er tot.«
Seine Worte sprudelten unkontrolliert aus ihm heraus. »Manchmal wache ich nachts auf. Heute noch. Und dann hab ich ihn wieder in der Nase. Seinen Geruch. Felix’ Körper war schon kalt, als Sophie endlich ihre Finger von seinem Körper löste. Doch er roch immer noch so wie an dem Morgen, als ich ihn zum ersten Mal gehalten und mit Babylotion eingecremt hatte.«
»Und jetzt willst du ernsthaft herausfi nden, ob er …« Stern konnte hören, wie schwer Borchert das Wort über die Lippen kam.
»… ob er wiedergeboren wurde?«
»Ja. Nein.« Robert zog die Nase hoch. »Ich weiß es nicht, Andi. Aber ich muss zugeben, dass ich mir diese Ähnlichkeit nicht rational erklären kann.«
Er erzählte ihm von dem Muttermal des Jungen, der die Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen ausblies. »Es sitzt genau dort, wo Felix eines hatte. Auf der Schulter. Und das ist sehr selten, meistens hat man die im Gesicht oder im Nacken. Natürlich ist es jetzt sehr viel größer, aber das Unheimlichste ist seine Form. Es sieht aus wie ein Stiefel.«
»Und Felix …« Borchert zögerte. »Also das Baby, das ihr beerdigt habt. Hatte es auch dieses Mal?« »Ja, ich hab es selbst gesehen. Vor und nach seinem Tod.« Stern schloss die Augen, als hoffte er dadurch die Mauer der Erinnerung ausblenden zu können, gegen die er gerade prallte. Es gelang ihm nicht, das Krankenzimmer und den metallenen Obduktionstisch auszublenden, auf dem sein Sohn lag.
»Es tut mir leid.« Stern strich sich fahrig über die Stirn, zögerte einen kurzen Moment, dann stieg er schließlich aus.
»Ich kann verstehen, wenn du mir nicht glaubst und mit diesem Irrsinn nichts mehr zu tun haben willst.« Er warf die Beifahrertür ins Schloss und ging auf den Hauseingang zu, ohne Borcherts Reaktion abzuwarten. Ein kurzer Blick auf die dezente Namenstafel am schmiedeeisernen Eingang verriet ihm, dass er am Ziel war. Fünfter Stock, links. Stern wollte gerade klingeln, als er den Keil bemerkte, der ein Zufallen des Tores verhinderte. Unsicher, ob er, wie in vielen Berliner Mietshäusern üblich, einen Schlüssel für den Fahrstuhl benötigen würde, ging er zu Fuß die Treppe hinauf und brauchte daher eine Weile, bis er endlich im Dachgeschoss angelangt war. Schwer atmend stützte er sich auf das abgegriffene Treppengeländer und hielt erschrocken inne. Es war allerdings nicht seine schlechte Kondition, die ihm Sorgen bereitete, sondern die Praxistür. Sie stand sperrangelweit offen.
11.
G eht es dir gut, Simon?«, fragte Professor Müller, während
er die Sprechtaste gedrückt hielt. Er sah durch die dicke Glasscheibe in den benachbarten Untersuchungsraum, in dem der schneeweiße Kernspintomograph stand. Simon lag, nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet, in der Röhre, in die er vor wenigen Minuten wie in einen Ofen hineingeschoben worden war. Für ihn war es das fünfte Mal in zwei Jahren, dass er die halbstündige Prozedur über sich ergehen
lassen musste. Die bisherigen Magnetfeldresonanzaufnahmen seines Gehirns hatten leider nur ein unkontrolliertes Wachstum der Zellen in seinem Kopf diagnostiziert. Heute aber sollte ausnahmsweise nicht sein Tumor Gegenstand der Untersuchung sein.
»Ja, alles okay.«
Simons Stimme wurde klar und deutlich über die Lautsprecher übertragen.
»Und das funktioniert wirklich?« Müller hatte die Mikrophontaste losgelassen, damit der Junge ihre Unterhaltung im Nebenraum nicht mitbekam. Dass er seine Zustimmung zur Durchführung dieses Testes gegeben hatte, lag einzig und allein an seiner Neugier, dieses neuroradiologische Experiment, von dem er bislang nur gelesen hatte, tatsächlich mit eigenen Augen erleben zu dürfen. Außer ihm und dem Kommissar befand sich noch eine androgyne Blondine im Computerraum. Sie war ihm als medizinisch geschulte Verhörexpertin des Landeskriminalamtes vorgestellt worden und wuselte gerade zu seinen Füßen unter dem Monitortisch umher.
»Ja. Diese Methode ist sogar viel genauer als ein Test mit herkömmlichen Polygraphen. Außerdem hätten Sie wohl kaum erlaubt, dass Simon in seinem Zustand die Klinik verlässt. Also greifen wir jetzt auf den hauseigenen Lügendetektor der Seehausklinik zurück.« Brandmann lachte auf. »Obwohl Sie bis heute gar nichts davon wussten, dass Ihr Krankenhaus so was überhaupt besitzt, oder?« »Professor Müller?«,
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